Berliner strampeln sich vor

Touris, Mountainbikers, Kuriere – Auf vielen Straßen wird es eng für Radfahrer

  • Andrea Barthélémy, dpa
  • Lesedauer: 4 Min.
Der Sommer kommt, und auf den Straßen der Hauptstadt zeigt sichs jeden Morgen: Es werden immer mehr, die in Berlin täglich in die Pedale treten. Hollandräder rollen neben Mountainbikes, Kuriere ziehen haarscharf links vorbei, während rechterhand Touristenschlangen in unerschütterlicher Ruhe ihre Besichtigungsrunden drehen.

Der Anteil der Radfahrer im Berliner Straßenverkehr steigt seit Jahren. Mittlerweile liegt er bei 15 Prozent – und nach Wunsch von Verkehrssenatorin Ingeborg Junge-Reyer (SPD) sollen es bis 2025 sogar 20 Prozent sein. Das wird eng, glauben manche. Und prompt verliehen die Grünen der Senatorin jetzt die »Verbogene Speiche«, weil die Infrastruktur mit dem Radlerboom nicht mithalte.

Tatsächlich ist das Fortkommen auf zwei Rädern vor allem an Knotenpunkten und viel befahrenen Routen wie der Schönhauser oder Prenzlauer Allee nicht immer einfach: Da wird es eng auch mit Rücksicht untereinander – zwischen Radlern, Autofahrern, Fußgängern und auch innerhalb der Radlergemeinde.

Zwar geht die Zahl der verunglückten Radfahrer in der Hauptstadt insgesamt seit Jahren zurück – laut Unfallstatistik waren 2010 knapp 6200 Radler an Unfällen beteiligt, im Jahr zuvor noch gut 7000. Auch die Zahl der tödlichen Unfälle sinkt, 2010 starben sechs Radler im Straßenverkehr. Aber Daten des Statistischen Bundesamtes zeigen auch, dass in Berlin deutlich mehr Unfälle von Radfahrern verursacht werden (38,5 Prozent der Radunfälle) als etwa in Hamburg (32 Prozent) oder im Bundesdurchschnitt (37 Prozent).

Wird Berlin zur Hauptstadt der »Rüpelradler«, wie mancher meint? Bettina Cibulski vom Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club (ADFC) Deutschland sagt: »Ein gewisses Aggressionspotenzial gibt es generell, auch bei Radfahrern. Aber im Winter sind weniger unterwegs und deshalb wird es weniger wahrgenommen als im Frühling.« Wo allerdings der Platz fehle, sich ein Pulk von Radlern auf winzigen Stellflächen vor der roten Ampel drängle, seien Konflikte vorprogrammiert. Das glaubt auch ihr Berliner ADFC-Kollege Julian Fischer: »Für die unterschiedlichen Geschwindigkeiten, die es zunehmend auch unter Radfahrern gibt, sind die Radwege viel zu eng.«

Die Psychologin Carmen Hagemeister (TU Dresden) glaubt nicht, dass die Radfahrer per se aggressiver werden. »Autofahrer sind auch nicht weniger aggressiv. Aber während ein Radfahrer, der eine rote Ampel überfährt, schnell als Rüpel gilt, wird es beim Autofahren völlig toleriert, dass Tempo 50 in der Stadt überschritten wird.« Ähnlich sieht es Verkehrspsychologin Prof. Karin Müller (Berlin): »Es sind einfach immer mehr Radfahrer da. Und sobald der Raum enger wird, wird es konfliktträchtig.«

Was tun also, bevor sich Ellenbogen-Mentalität breit macht? »Wir wissen, dass die derzeitige Infrastruktur nicht in allen Fällen ausreicht«, räumt der oberste Fahrradstratege des Landes, Burkhard Horn von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, ein. Der Ausbau des Radwegenetzes, vor allem auf und nicht neben der Fahrbahn, die Bereitstellung von mehr Parkplätzen für Räder und ein öffentliches Radverleihsystem, wie es derzeit im Modell gemeinsam mit der Bahn erprobt wird, stehen deshalb oben auf der Agenda.

Zugleich wird mit Hochdruck – wenn auch bei beschränkten Personalkapazitäten – an der Fortschreibung der Berliner Radverkehrsstrategie gearbeitet. Noch im Sommer soll ein erster Entwurf vorliegen. Angedacht sind darin auch Modellversuche für Fahrradschnellrouten in der Stadt oder für eine »Grüne Welle« im Radtempo. Auch sogenannte Fahrradschleusen – Radwege auf der Fahrbahn, über die Radler zum Linksabbiegen an die Kreuzung vorradeln können – sollten getestet werden.

»Auf längere Sicht schätze ich, dass ein Anteil von 18 bis 20 Prozent Radfahrern am Straßenverkehr realistisch ist«, sagt Horn. Für Quoten wie in Kopenhagen oder Münster, in denen die Innenstädte quasi den Radfahrern gehören, sei Berlin schlicht viel zu groß. »Und: Wir haben einen sehr guten und hohen ÖPNV-Anteil.« Horn hält deshalb die Kombi Bike & Ride für das Modell der Zukunft.

Beim Miteinander der Radler und ihrer Beachtung von Verkehrsregeln ist dennoch »Platz nach oben«, sagen die Experten. So gebe es etwa bei radelnden Besuchergruppen durchaus noch »Kommunikationsbedarf«, so Horn: »Generell ist es unterstützenswert und toll, dass Touristen die Stadt mit dem Rad erkunden. Aber Infoblätter, die vor der Radtour noch mal über die Straßenverkehrsregeln informieren, könnten hilfreich sein.« Und auch an einheimische Radler, von denen viele so gerne auch mal über Gehwege oder via Radwege in Gegenrichtung düsen, wird appelliert. Horn: »Wir planen im nächsten Jahr eine große Kommunikationskampagne zu dem Thema.«

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