nd-aktuell.de / 20.06.2011 / Politik / Seite 5

»Die Debatte ist nicht neu«

Peter Ulrich über die Antisemitismus-Diskussion in der LINKEN

Der Soziologe Peter Ullrich arbeitet an der Abteilung für medizinische Psychologie und medizinische Soziologie der Leipziger Universität und ist Verfasser des im Dietz-Verlag erschienenen Buches »Die Linke, Israel und Palästina«.

ND: Sie haben über den Antisemitismus in der Linken geforscht. Kommt die aktuelle Debatte in der Linkspartei für Sie überraschend?
Ullrich: Nein, diese Debatte ist ja nicht neu. Sie wiederholt sich in bestimmten Zyklen: bei gedenkpolitischen Anlässen oder Ereignissen im Nahen Osten. Neu ist allerdings die Verknüpfung der Debatte mit der Frage der politischen Legitimität der Linkspartei und ihrer Regierungsfähigkeit, wie sie in der aus wissenschaftlicher Sicht höchst kritikwürdigen Studie des Gießener Politikwissenschaftlers Samuel Salzborn und des Leipziger Historikers Sebastian Voigt angestrengt wird.

Was ist ihre Hauptkritik an dieser Studie?
Einzelne Negativbeispiele werden unzulässig generalisiert, was nur durch Auslassung wichtiger Kontextinformationen gelingt. Zudem sind zentrale historische Prämissen falsch. So wird der Eindruck erweckt, mit der LINKEN würde erstmals in der Nachkriegszeit eine Partei mit antisemitischen Positionen regierungsfähig werden. Damit werden die zahlreichen Politiker mit NSDAP-Vergangenheit sowie antisemitische Ausfälle von Politikern aller Parteien in der Nachkriegszeit relativiert und der Antisemitismus einseitig in der LINKEN verortet.

Warum konnte die Diskussion dann jetzt in der Partei eine solche Bedeutung bekommen?
Die Linkspartei hat sich die Debatte nicht ausgesucht. Die Berichterstattung der letzten Wochen war geprägt durch teilweise perfide Unterstellungen. Zudem ist die Diskussion eng mit den innerparteilichen Strömungskonflikten verknüpft. So müssen die regierungswilligen Reformer viel stärker unter Beweis stellen, dass sie auch in dieser Frage staatstragend sind als die Vertreter des linken Flügels.

Aber Sie bestreiten ja nicht, dass es dort Antisemitismus gibt?
Antisemitische Positionen unter Linken sind meist die Folge einer Überidentifikation mit den Palästinensern im Nahost-Konflikt. Bei manchen Linken ist sie mit einer völligen Ignoranz gegenüber den Interessen der israelischen Seite in dem Konflikt verbunden.

Können Sie ein Beispiel nennen?
Die Forderung nach einem binationalen Staat im Nahen Ost ist von einer menschenrechts-universalistischen Perspektive nicht zu beanstanden. Problematisch wird es aber, wenn die reale Problematik antisemitischer Gruppierungen wie der Hamas ebenso ausgeblendet wird wie der Wunsch vieler Juden nach den Erfahrungen der Shoah, in einem eigenen Staat zu leben.

Wurde die Debatte über den linken Antisemitismus nicht eher in Kreisen der außerparlamentarischen Linken als der Partei die LINKE geführt?
Ja, denn der inhaltliche Kern der Partei ist nicht der Nahost-Konflikt. Es geht ja eher um Fragen sozialer Gerechtigkeit oder die Anerkennung von DDR-Biografien. Die große Mehrheit der Mitglieder unterstützt intuitiv die Palästinenser, aber das Thema steht bei ihnen nicht im Vordergrund. Eine bedingungslose Identifikation mit einer Seite im Nahost-Konflikt wurde eher von kleineren, aber sehr ideologisierten Gruppen praktiziert.

Ist es nicht positiv zu werten, dass jetzt über Antisemitismus in der LINKEN diskutiert wird?
Diese Hoffnung hatte ich auch. Eine solche Debatte müsste die Sensibilität dafür stärken, wo propalästinensische Positionen an antisemitischen Einstellungen anschlussfähig sind. Da wirkt der Beschluss der Bundestagsfraktion allerdings kontraproduktiv, weil er die alten Frontstellungen zementiert. Das zeigen sämtliche Reaktionen. Hier wird versucht, mit administrativen Mitteln eine notwendige Debatte zu ersetzen.

Sehen Sie noch einen Ausweg?
Notwendig wäre eine Positionierung gegen jede Form von Antisemitismus und genauso deutlich gegen die israelische Besatzung. Ausgewogenere Akteure wie die Rosa-Luxemburg-Stiftung könnten bei der Formulierung einer solchen nichtidentitären Politik eine wichtige Rolle spielen.

Interview: Peter Nowak