Es war nicht Eichmann allein

Die Ungarin Eva Fahidi schreibt und spricht über alten und neuen Judenhass in ihrer Heimat

  • Ingrid Heinisch
  • Lesedauer: 4 Min.
Fast 60 Jahre vergingen, bis die Ungarin Eva Fahidi an die Stätte des Schreckens, nach Auschwitz, zurückkehrte. Dann begann sie, ein Buch über ihre Erinnerungen zu schreiben: »Die Seele der Dinge«. Jetzt stellte sie es in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin vor.
Eva Fahidi in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand
Eva Fahidi in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand

»Die Seele der Dinge« ist ein Buch, das berührt, mitreißt, traurig macht. Eva Fahidi hat nicht nur über Auschwitz und die Fähigkeit des Menschen zum Bösen geschrieben. Sie lässt das Bild ihrer jüdischen bürgerlichen Familie aufleben, die in Ungarn, der Slowakei und Österreich verwurzelt war und zwischen den drei Sprachen fließend wechselte. Eine Familie, die so vollkommen vernichtet wurde, dass nur wenige Dinge an sie erinnerten: etwa ein Taschentuch, das ihre Schwester benutzt haben könnte und das plötzlich von großem Wert für Eva war.

Den Eltern und Großeltern sind eigene Kapitel gewidmet, aber da sind auch ihr Vorbild – ihre Cousine Boczi – und diejenige, der sie selbst Vorbild sein wollte – ihre kleine Schwester Gilike –, von denen sie im Gespräch berichtet. »Ich wollte als kleines Mädchen immer eine lebende Puppe. Das war meine Schwester. Ich erinnere mich genau: Mama lag dort in einem wunderschönen Nachthemd, eine kleine Wiege stand dabei, und darin meine kleine Puppe!«

Gilike wurde ein sehr selbstbewusstes Kind, das sich sogar den Nonnen in der katholischen Schule widersetzte, die sie besuchten, auch die ältere Cousine Boczi. »Zu jener Zeit war es modern, dass Kinder in Gilikes Alter ganz kurze Röcke trugen, so kurz, dass man ein bisschen vom Höschen sah. Gleich am am ersten Tag in der Klosterschule erklärte ihr die Schwester: Liebes Kind, geh nach Hause und sage deinem Vater, er sei nicht zu arm, dass er dir keinen langen Rock kaufen könnte. Da hat sie die Schwester angeschaut und gesagt: Aber bitte, ich will keine Nonne werden.« Ein selbstbewusstes Mädchen also, von dem Eva sich nicht vorstellen konnte oder wollte, dass sie die Selektionen im KZ Auschwitz nicht überlebt hatte. Entgegen jeder Wahrscheinlichkeit. Seit dem Kriegsende suchte sie nach ihr. Bis sich eine Freundin von Gilike meldete.

»Für mich war diese Frau elf Jahre alt wie meine Schwester, denn in dem Alter hatte ich sie zuletzt gesehen. In der Zwischenzeit sind über 60 Jahre vergangen. Sie hat ihre ältere Schwester verloren, ich meine kleinere Schwester. Irgendwie ist es eine Genugtuung, dass wir uns gefunden haben. Sie hat in mir etwas von ihrer älteren Schwester und ich habe etwas von meiner Gilike in ihr getroffen.«

Mit Gilike und der Mutter hat Eva Fahidi in Auschwitz an der Rampe auch ihre Cousine verloren, die ihr so ähnlich sah. Boczi war da schon jung verheiratet und gerade Mutter geworden. »Wir sind vor Mengele angekommen. In einer Reihe, neben mir die Boczi, dann ein Wäschekorb mit allen Windeln und Babykleidung und darauf das Baby, das schon fast ausgetrocknet war von der Reise – es war Sommer, wir waren im Viehwaggon gefahren mit 80 Personen, ohne Wasser. Den Korb haben die Boczi getragen und meine Mutter, die hatte an der anderen Hand die Giliki. Wie wir zu Mengele gekommen sind, hat er gefragt: Seid ihr Zwillinge? Ganz höflich und freundlich. Wir haben gesagt: Nein, und dann hat er bei mir die Reihe abgeschnitten, ich kam auf die eine Seite und alle anderen auf die andere Seite.«

Was wäre geschehen, wenn sie sich als Zwillinge ausgegeben hätten? Wäre es Boczis Rettung gewesen, Evas Untergang? Quälende Fragen, wahrscheinlich bis heute. Auf jeden Fall war Eva danach allein – so allein, dass andere es sich nicht vorstellen können, schreibt sie. Allein auch mit der Frage, wie Menschen so handeln können.

Ziemlich einsam ist sie in Ungarn auch mit der Meinung, es gebe eine Mitschuld der ungarischen Bevölkerung an der Vernichtung ihrer jüdischen Mitbürger 1944. »Eichmann«, sagt Eva Fahidi, »kam mit 80 deutschen Mitarbeitern. Sie allein konnten unmöglich die Ermordung von über 400 000 Menschen in vier Monaten organisieren. Wo sind all die Menschen geblieben, die ihnen geholfen haben?« Dieser Frage nach der historischen Verantwortung will sich in Ungarn bis heute kaum jemand stellen. Der Antisemitismus ist wieder allgegenwärtig, ebenso die bis zum Mord reichende Verfolgung von Roma und Sinti. Eine Entwicklung, der sich Eva Fahidi mit aller verbliebenen Kraft entgegenstemmt: im Gespräch mit der Jugend und mit ihrem Buch.

Eva Fahidi: Die Seele der Dinge. Lukas Verlag. 239 S., 16,90 €

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