»Tal total« am Rhein

Autofreier Sonntag auf den Durchgangsstraßen zwischen Bingen und Koblenz hat Tradition

  • Hans-Gerd Öfinger
  • Lesedauer: 3 Min.
Über 70 000 Menschen nahmen am vergangenen Sonntag bei sommerlicher Witterung am Mittelrhein aktiv an einem autofreien Erlebnistag teil und bevölkerten als Wanderer, Radfahrer, Inline-Skater oder mit anderen Fortbewegungsmitteln die Durchgangsstraßen im romantischen Tal der Loreley. Damit sie dies gefahrlos tun konnten, waren die Bundesstraßen 9 und 42 auf rund 60 km Länge zwischen Bingen und Koblenz beziehungsweise Rüdesheim und Lahnstein zehn Stunden lang für den motorisierten Verkehr gesperrt.
Endlich genug Platz: Inline-Skater beim autofreien Sonntag im Mittelrheintal
Endlich genug Platz: Inline-Skater beim autofreien Sonntag im Mittelrheintal

Es war schon die 20. Auflage eines autofreien Sonntags am Mittelrhein unter dem Motto »Tal total«. Entlang der für Radfahrer, Wanderer und Skater reservierten Straßen waren örtliche Vereine und Gastwirte aus der Region präsent. Sie organisierten in den Gemeinden kleine Volksfeste mit reichhaltiger Verpflegung und Live-Musik. Sanitäter vom Arbeiter-Samariterbund und vom Rotem Kreuz hatten in Abständen von wenigen Kilometern ihre Zelte aufgebaut, Mechaniker des Automobilclubs ACE halfen den Radlern bei Pannen.

Initialzündung von oben

Zwar ratterten auch an diesem Sonntag etliche Güterzüge durch das Mittelrheintal, immerhin eine der wichtigsten Güterverkehrsstrecken Europas, und sorgten gelegentlich für Lärm. Doch das Fehlen von Autos, Lastkraftwagen, Motorrädern und Bussen war wohltuend. Zudem trug die Fortbewegung mit eigener Muskelkraft zur Entspannung bei. Die entlang der Strecke eingesetzten zusätzlichen Sonderzüge konnten nicht immer den Andrang von Fahrrädern bewältigen, hin und wieder mussten frustrierte Radler draußen bleiben.

»Tal total« war Anfang der 1990er Jahre als »Chefsache« des damaligen rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten und passionierten Radfahrers Rudolf Scharping (SPD) ins Leben gerufen worden. Diese Initialzündung und Rückendeckung von oben waren offensichtlich unabdingbar, damit die beteiligten Behörden, Anliegergemeinden und Landkreise bei der Sperrung der viel befahrenen Bundesstraßen mitten im Sommer und bei der notwendigen logistischen Zuarbeit an einem Strang zogen. Denn die Absperrung der Straßen erforderte einen massiven Polizeieinsatz – ebenso wie die Herstellung und großräumige Anbringung entsprechender Hinweis- und Verkehrsschilder sowie die Information ahnungsloser Verkehrsteilnehmer. Federführend war und ist dabei der »Landesbetrieb Mobilität«, die ehemalige Straßenmeisterei in Rheinland-Pfalz.

Die meisten Besucher von »Tal total« waren nach Angaben der Touristikvermarktung »Romantischer Rhein« aus einem Umkreis von rund 150 Kilometern angereist – bis hin zu den Ballungsräumen Rhein-Ruhr und Rhein-Main. Kommunal- und Landespolitiker nutzten den Tag für ein »Bad in der Menge«. So radelte ein sichtlich dünner gewordener Mainzer Ministerpräsident Kurt Beck (SPD) ohne Helm mit Profisportlern von Kaub über die hessische Landesgrenze. Er tat dies im Rahmen der Kampagne »Vor-Tour der Hoffnung« für krebskranke Kinder. In dem Rheingau-Städtchen Lorch traf er auf seinen Parteifreund Burkhard Albers, Landrat des Rheingau-Taunus-Kreises, der den ausreisenden Radlern direkt auf der B 42 kistenweise frische Bananen überreichte.

Internationale Nachahmer

Während die meisten Menschen die Entschleunigung ohne motorisierte Fahrzeuge im Tal sichtlich genossen, sammelten fleißige Helfer aus der Region bei den Radlern Unterschriften für mehr Straßenverkehr. Weil die neue Landesregierung aus SPD und Grünen die Pläne zum Bau einer Mittelrheinbrücke unweit der Loreley laut Koalitionsvertrag bis 2016 »nicht weiter verfolgt«, wollen nun Initiativen aus örtlichen CDU- und SPD-Mitgliedern Dampf machen und die Brücke dennoch durchsetzen. Sie erhoffen sich davon einen Wirtschaftsaufschwung für die von Abwanderung stark betroffene Region. Kritiker des Bauwerks hingegen, ebenfalls mit Transparenten präsent, sehen in einem 24-stündigen Fährbetrieb die kostengünstigere und umweltverträglichere Alternative.

»Tal total« war 1992 ein Pionierprojekt und hat inzwischen nicht nur im Südwesten, sondern bundesweit und international Nachahmung gefunden – in Flusstälern ebenso wie mitten in Metropolen. So zählt das Umwelt- und Prognoseinstitut (UPI) im laufenden Sommerhalbjahr 77 autofreie Sonntage in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Dabei hat die Schweiz mit den dort »SlowUp« genannten Initiativen bezogen auf Einwohnerzahl und Landesfläche mittlerweile alle anderen Länder überrundet.

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