Heimkehr ins verlorene Land

»Tal der Issa« und eine andere Dimension der Zeit – zum 100. Geburtstag von Czeslaw Milosz

  • Sabine Neubert
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Erinnerung an seine ländliche polnisch-litauische Heimat hat den Dichter Czeslaw Milosz lebenslang nicht losgelassen. Er blieb verwurzelt im Land der Jugend, über das die geistigen Zerstörungen zweier politischer Systeme hinweggegangen waren und ihn, den Diplomaten, 1961 ins Exil, zuerst nach Paris, denn in die USA getrieben hatten.

Es hat fast Symbolhaftes, dass der Vater des 1911 im litauischen Šeteniai geborenen Czeslaw Milosz Brückenbauingenieur gewesen ist. Auch der Dichter hat Brücken über Zeiten und Räume, über leidvolle historische Erfahrungen hinweg gebaut. Ein später Essayband trägt den bezeichnenden Titel »Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang«. Das Buch schlägt einen Bogen von der Kindheit bis zum Alter, von Litauen bis nach Kalifornien. Eigentlich, bekannte Milosz in seiner Nobelpreisrede 1980, habe er lebenslang an »einem« Gedicht geschrieben. Dieses »eine« Gedicht umfasst ein großes lyrisches Werk voller Sprachmagie, zahlreiche Essaybände und den wunderbaren Kindheitsroman »Tal der Issa«.

Dieses Buch wieder lesen heißt Czeslaw Milosz neu entdecken. Wir treten in einen Zaubergarten ein. »Das Leben der Menschen, die am Morgen vors Haus gehen und das Glucksen der Birkhähne nicht hören, muss traurig sein. denn den wirklichen Frühling haben sie nicht kennen gelernt«. Vielleicht müssen wir erst der lärmenden Städte und betonierten Strände überdrüssig sein, um die Reinheit dieses verlorenen Paradieses zu erkennen. Ich sage »Reinheit«, obwohl mir klar ist, dass die Welt in diesem litauischen Dorf Ginie 1910 bis 1920 alles andere als nur idyllisch gewesen ist. Obwohl da seit Jahrhunderten die alten heidnischen Götter, Schatten und Teufel spukten, obwohl Aberglaube, Vorurteile, Hass und Alkohol Menschen in den Tod trieben, bleibe ich beim Wort »Reinheit«. Das verlorene Land der Kindheit des Erzählers ersteht in der »leuchtenden« Kindheit des Knaben Tomasz Dilbin neu. Eine entlegene, frühlingsfrische und sommerstaubbedeckte Dorfwelt abseits des großen Weltgeschehens, vergleichbar Johannes Bobrowskis »Sannatischer Zeit«: An »Morgenrotglück« muss ich denken, ein Wort, das Rose Ausländer für ihre Erinnerungen an die verlorene Heimat am Flusse Pruth erfunden hat, oder an Andrzej Stasiuks »Welt hinter Dukla«. Auch diese Gegend ist so etwas Weltverlorenes am Rande der Zeit. »Wenn alles vergeht, bleibt noch der Himmel ... aber dieses Bild der menschlichen Seele wird überdauern in einer Zeit, die langsam zu Ewigkeit wird, bis sie endlich verschwindet wie alles andere auch ...« – »Tal der Issa« ist ein Aufbewahren, realistisch, magisch, symbolisch.

Der Junge Tomasz wächst wohlbehütet auf dem großväterlichen Gut auf. Seine Kinderwelt ist voller Geheimnisse, die es zu ergründen gilt. Der Krieg ist weit weg. Nur ganz zu Beginn hat »das Land der Seen« aufgehört, dem russischen Zaren zu gehören. Die neue Zeit meldet sich durch erste Auseinandersetzungen um die Landaufteilung. Aber das bekommt der Großvater noch in den Griff. In dessen Bibliothek findet der Junge Bücher zur Geschichte und Religionsgeschichte, vor allem aber über Pflanzen und Tiere. Als Tomasz älter wird, darf er mit zur Jagd auf Enten, Schlangen, Schnepfen und Auerhähne, eine Art Initiation ins Erwachsenenalter. Einmal schießt er beinahe einen Rehbock. Sein Versagen in letzter Minute ist doch besser gewesen, als töten zu müssen. Die Begegnung mit Schuld und Tod bleibt gerade in einem so kleinen geschlossenen Kosmos nicht aus. Baltazar richtet der Alkohol zu Grunde. Tomasz' Großmutter Misia stirbt, und der Schreiner zimmert ihr ein schlichtes Holzkreuz mit einem kleinen Dächlein. Unweit von ihr nahe der Friedhofsmauer liegt die junge Magdalena, die sich wegen der Liebe zu Pfarrer Pejkswa und all der bösen Vorurteile vergiftet hat. Schließlich holt die geliebte Mutter den 13-jährigem Jungen aus dieser Welt weg und bringt ihn über die Grenze. Ein Abschied für immer, auch der des Autors.

Czeslaw Milosz hat dieses Buch 1955 im Pariser Exil geschrieben. Viel später, 1987 in Berkeley, hat er von dem »unausrottbaren Glauben an eine andere Dimension der vergangenen Zeit« gesprochen. Die »andere Dimension« macht diesen Roman so zeitlos: »Der Frühling gewinnt an Kraft, und der Holunder blüht ... Die Mädchen stellen sich auf die Zehenspitzen und pflücken die Dolden der zarten Blüten ...« Am Ende des Lebens ist Milosz die Heimkehr doch noch gelungen. Er starb 2004 in Krakau. Polen aber hatte sich die Werke seines Dichters schon lange vorher heimgeholt.

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