Typen tummeln sich beim Tingeltangel

»Einsam lehnen am Bekannten« heißt es im Heimathafen Neukölln

  • Lucía Tirado
  • Lesedauer: 3 Min.

Wem es noch an Klischees über das Neuköllner Leben fehlt, der bekommt jetzt Gelegenheit zu einer Nachhilfestunde. Die wird im Heimathafen an der Karl-Marx-Straße bunt als Varieté verpackt angeboten. Natürlich heißt das in diesem Bezirk Tingeltangel. Der ist gemacht, wie es im Buch geschrieben steht. Denn der Tingeltangel entstand nach dem im Lilienfeld Verlag erschienenen 186 Gramm schweren Buch »Einsam lehnen am Bekannten« mit kurzer Prosa von Felicia Zeller. Von der Autorin wurde im Theater unterm Dach in Prenzlauer Berg »Kaspar Häuser Meer« ein Erfolg, weil es ihre Art ist, genau hinzusehen und soziale Situationen zu benennen, bei denen andere sich in der Kunst üben, sie zu umschreiben. Zeller aber skelettiert verbal.

Schlicht gesagt: Immer rauf auf das Schlimme. Klischees über Neukölln sind auch von der schlimmen Art. Zeller zündelt. Sie treibt die Sache auf die Spitze. Das nimmt ihr keiner krumm. Schließlich ist sie nach Umwegen über London, Gießen und Australien inzwischen in Neukölln angekommen. Angefeuert von ihren Texten inszenierte die im Heimathafen vor Anker gegangene Regisseurin Regina Gyr den Tingeltangel in einer Art illustrierter Textcollage mit allem, was man Haarsträubendes über Neukölln so hört oder schon mal las. Farbige, hautenge Trikots tragen die Schauspieler – sozusagen als Untergrund. Jacken, Umhänge usw. lassen sich schnell für eine Szene überziehen und hurtig wieder abwerfen.

Im schönen Heimathafen-Theatersaal ist die Mitte frei. Eine puppenhaft ausgestattete Rollschuhläuferin dreht hier vor Beginn schon mal ihre Runden. Auf der Empore sieht man zwei Handpuppen tuscheln. Das Publikum blickt von drei Seiten auf das Panoptikum. An der vierten Seite ein Perlenvorhang für den großen Auftritt. Opernglas, Feldstecher oder Fernrohr mitbringen, steht auf dem Flyer zum Programm. Natürlich stark in Neuköllner Manier übertrieben. Man ist aufgefordert, hier Neukölln selbst unter die Lupe zu nehmen, die Nadel im Heuhaufen neu zu entdecken: »Treten Sie näher! Hinein, mitten ins Großstadtgewühl! Hier darf, muss gelacht werden!«

Dann tanzen sie an, die Erfolglosen, die Antriebslosen, die ihren Körper ins Kaffee schleppen, die Kopftuchtürkin, kampftrinkende und Kampfhunde führende Gestalten, Obdachlose, Bettler, gesichtslose Schnäppchenjäger, Joggerinnen auflauernde Anmacher, Typen mit Imponiergehabe oder Drohgebärde und so weiter und so weiter. In kurzen Monologen oder Dialogen erklären sie ihr momentanes Dasein. Oder sie zeigen nur, was sie gern wären.

Die Rede ist auch von Künstlern oder solchen, die sich dafür hielten oder halten. In den 60ern strömten sie nach Berlin, um etwas zu werden. Heute erklären sie, sie seien Revolutionäre gewesen. Da kommt passender Sport zum Spott. Frauen vom Turn- und Sportverein Neukölln 1865 zeigen, wie man richtig Fahnen schwingt. Als Sahnehäubchen des Hohns sammeln sich die Schauspieler ab und an zur herumhängenden Gruppe. In abgehackten Dialogen sprechen die »Bevor-Denker« kraftlos an, »...was man mal so machen könnte. Vielleicht zur Probe. Oder regelmäßig. Aber nein. Das wäre dann doch zu viel...«

Die Tingeltangel-Stunde wird mit Tempo gespielt und mit dem Schmiss und der Frechheit, die solch eine Sache braucht. Prima gemacht. Mit der größten Ausstrahlung agierten bei der Premiere Britta Steffenhagen und David Bredin, aber dicht gefolgt von Regina Gyr, Luzia Schelling, Anja Schneller, Alexander Szallies und Grégoire Gros. Apropos: Vom Trinken wird fast pausenlos geredet, wenn Neuköllner Theater machen. Wohl auch ein Klischee. Den »Bierflaschenträgern« nämlich begegnet man abends in der U-Bahn erst ab dem Bezirk Mitte.

2.7., 21 Uhr, Heimathafen Neukölln, Karl-Marx-Straße 141, Infos unter der Tel.: (030) 61 10 13 13, www.heimathafen-neukoelln.de

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