Beredte Augenblicke

Ausstellung I: Fotografien von Georges Brassai

  • Anita Wünschmann
  • Lesedauer: 5 Min.

Henri Matisse verfügte über ein aufgeräumtes Atelier. Er trug einen weißen Malerkittel, gebügelte Hosen und blank geputzte Schuhe. Er sitzt konzentriert wie ein Arzt, der sich mit der Diagnose seines Patienten befasst – und in der Tat wurde er von seinen Freunden schon als Professor tituliert –, seinem sinnlichen Modell Lydia Delectorskaya gegenüber und nimmt Augenmaß. Georges Braque schaut mit skeptischem Blick in die Kamera, Henri Laurens berührt die Hüfte seiner »Großen Musikantin« (1946) wie ein Kontrabassspieler die Saiten. Eine Skulptur Giacomettis reckt die Hand ins Bild, als wollte sie den Künstler mit der wilden Haarmähne ergreifen. Picasso steht mit Anzug und Weste, in der linken Hand die Zigarette, und umfasst mit der rechten seine Figur »Der Redner« (1937), als wolle er ihm die Luft nehmen.

Diese Einblicke in die Ateliers der französischen Avantgarde- Künstler des 20. Jahrhunderts verdanken wir dem gebürtigen Ungarn und Wahlfranzosen Brassai (1899-1984), der als »Das Auge von Paris« (Henry Miller) berühmt wurde. Er selbst bekannte, Ende der Zwanziger eine Stimmung »des Herbstes« zu erleben.

Es ist einer der sonnigen und heißen Sommertage in Berlin. Man begegnet sich mit Freundlichkeit und kann die Spreestadt genießen. Die Probleme fern. An solch einem Tag eröffnete Udo Kittelmann, Generaldirektor der Nationalgalerie, mit mediterraner Leichtigkeit die Doppelausstellung »Brassai – Im Atelier und auf der Straße«. Paris in Charlottenburg.

Hier in den Museumsdependancen – der Sammlung Scharf-Gerstenberg und dem Museum Berggruen – werden Preziosen aus der Nationalgalerie in die thematischen Sammlungen hineinkomponiert und man möchte fast glauben, dass es für die Fotografien Brassais keinen schöneren Ort gäbe. So ist es einmal mehr gelungen, bei vehementem Sparzwang aus dem eigenen Bestand heraus eine sinnliche und gleichzeitig klar kommentierende Sommerausstellung zu arrangieren.

Brassai wurde 1899 mit bürgerlichem Namen Gyula Halász im damals ungarischen Brassó geboren. In Budapest besuchte er Vorlesungen an der Akademie der Schönen Künste und pflegte Künstlerkontakte, ehe er nach dem Zusammenbruch Österreich-Ungarns und dem Sturz der Räterepublik 1920 nach Berlin emigrierte.

Seine erste Station war Charlottenburg, wo er die Kunstakademie besuchte, um Malerei zu studieren. 1921schrieb er allerdings: »Es hat sich herausgestellt, dass neben dem Künstler und neben der Unabhängigkeit des Künstlers noch ein anderes Ich in mir existiert, dass ich den ›Denker‹ oder den ›Philosophen‹ nennen möchte.« Ein anderes Mal spricht er von den vielen Gesichtern, die er selbst habe, Masken, hinter denen er sein wahres Ich versteckt.

Offenbar noch im Zweifel, welche seiner Fähigkeiten und Neigungen sich durchsetzen sollte, zog er 1924 nach Paris, führte als Journalist das Leben der Bohème, fotografierte seinen weltberühmten Zyklus »Paris bei Nacht« und lernte neben dem Kreis der ungarischen Emigranten die Pariser Kunstszene kennen. Auf der Suche nach dem wahrhaften Schaffensimpuls und angekommen im Medium des 20. Jahrhunderts widmete er sich schließlich der künstlerischen Fotografie und benutzte fortan sein Pseudonym.

Den Berlinern ist Brassai, der sich in den Ateliers von Picasso bis Alberto Giacometti zu Hause fühlte, kein Unbekannter. Allein 2007 gab es im Martin-Gropius-Bau eine große Retrospektive. Nun also zwei Blickwinkel: »Im Atelier« und »Auf der Straße«. In den Straßen von Paris fand Brassai Graffiti und Mauerkratzbilder, deren erste Serie er schon 1933 in einer Zeitschrift veröffentlichte. Die anarchisch-universellen Ausdrucksformen begeisterten den Künstler. Ihn faszinierten die beredten Steine, die Spuren von Verwitterung, die Lebendigkeit der stillen Bildkommunikation als Ausdruck des anonymen Metropolenlebens. Es ist dabei, als ob er selbst den großen schwarzen Augen, seelentief-seelenlos, die aus Pariser Mauern der dreißiger und vierziger Jahre die Passanten tief erschrocken, traurig und verzweifelt anschauten, nicht hätte anders entfliehen können, als sie aufzunehmen.

Mit seiner Kamera arbeitete Brassai die Zeichen- und Zeitspuren nahezu plastisch heraus und dokumentierte Herzen, Pfeile, Fische, Katzen und Totenschädel in einem dramatisch anmutenden Schwarz-Weiß. Seine fotografischen Funde stellte er zu ganzen Serien existenzieller und fantastischer Entäußerungen zusammen wie »Masken und Gesichter«, »Archaische Bilder«, »Magie«, »Liebe«, »Tod«.

In der Sammlung Scharf-Gerstenberg, die mit ihrem Schwerpunkt auf den Surrealismus den Blick auf die dunkle und weltabgewandte »andere Seite« (Kubin) lenkt, sind die anonymen Kratzbil-

der mit Werken der Art Brut von Jean Dubuffet zu einer berührenden und faszinierenden Kabinettausstellung vereint.

Gleich gegenüber sind die Stillleben aus den Werkstattutensilien, die Atelierbilder, die Künstlerporträts den von Heinz Berggruen gesammelten Werken der klassischen Moderne dialogisch zugeordnet. Das ganze Berggruen-Haus, das am 29. August für ein Jahr des Umbaus und der Erweiterung geschlossen wird, ist für die Sommermonate noch einmal mit Energie aufgeladen, die aus dem dichten Wechselspiel von Fotografie, Malerei, Grafik und Skulptur herrührt. Mit den Fotografien sind dabei auch Arbeiten dokumentiert, die es längst nicht mehr gibt. Sie ergänzen die Werkschau, wie der aus Flies gerissene Hundekopf – ein Trostgeschenk Picassos für seine Geliebte Dora Maar, deren Pekinese verschwunden war. Und was hat Picasso seiner Zeit zu Brassai gesagt? »Es ist nicht möglich, hören sie, es ist einfach unmöglich, dass die Fotografie Sie wirklich befriedigt! Sie zwingen sich zur völligen Selbstverleugnung.« Voilà.

Berggruen & Scharf-Gerstenberg, Schlossstr., bis 28. August, Di-So 10-18 Uhr. Katalog.

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