Getanztes Weltkulturerbe

Das Alvin Ailey American Dance Theater begeisterte in der Deutschen Oper

  • Volkmar Draeger
  • Lesedauer: 4 Min.

Am Ende kannte der Jubel des stehenden Auditoriums kaum mehr Grenzen. Die ausverkaufte Deutsche Oper feierte die wirklichen Botschafter Amerikas, eines Amerika, in dem die Farbigen nicht nur anerkannter Teil der nationalen Geschichte sind, sondern auch den Präsidenten stellen. Viele haben zu dieser Entwicklung beigetragen, nicht zuletzt Alvin Ailey. Früh hatte der 1931 im zutiefst rassistischen Texas Geborene die Vision eines Tanzes, der den weißen Modern Dance mit der reichen Tradition Farbiger verknüpft. Gelungen ist ihm das in New York mit Gründung einer eigenen Company 1958, der er schon zwei Jahre später mit den »Revelations« ein Meisterwerk bescherte. Allen Finanzproblemen zum Trotz konnte sich das Alvin Ailey American Dance Theater auch international etablieren. Fast 80 Choreografien hinterließ Ailey bei seinem frühen Tod 1989, hatte als Nachfolgerin die charismatische Ballerina Judith Jamison bestimmt. Ihr ist auch die finanzielle Konsolidierung des Unternehmens aus inzwischen zwei Companies sowie eigener Schule zu danken, das seit 2005 über ein komfortables Probenzentrum verfügt.

Weltweite Tourneen katapultierten das Alvin Ailey American Dance Theater an die Spitze des modernen Tanzes afroamerikanischer Prägung. Auch 53 Jahre seit Formierung des legendären Ensembles hält der Triumph an. Den Auftakt seines jüngsten Europa-Trips bildete Berlin.

Nur wenige Tage zuvor wechselte die Leitung: Jamison, einst als »schwarze Gazelle« umjubelt und Gast etwa bei John Neumeier in Hamburg, übergab die Stafette an Robert Battle, der der Company als Choreograf bereits länger verbunden ist.

Wie man ein Ensemble über den Tod des prägenden Gründers hinaus frisch und lebendig hält und eben nicht zum Memorial erstarren lässt, auch hierfür steht diese rund 30 überwiegend farbige Tänzer zählende Truppe aus dem Schmelztiegel New York. Im Gepäck hat sie vier Werke, die Erbepflege und Zukunftsstreben aufs glücklichste verknüpfen. Am Beginn stehen »Love Storys« (2004) als Teamarbeit von Jamison, Battle und dem Hip-Hopper Rennie Harris. Mitten im Verkehrslärm geht ein Licht an, setzt wie bei einer Probe Tanz in Gang. In atemberaubendem Tempo, dem plötzliches Innehalten dynamische Akzente verleiht, zieht ein Kaleidoskop der Stile vorüber: Jazz und Modern treffen auf Hip-Hop, solistische Explosionen münden in Gruppendisziplin, alles zusammen in eine Vorstellung vor imaginärem Publikum, ehe unbändige Tanzfreude zu einem letzten Höhepunkt gelangt. Mit zwölf Tänzern fächern die Choreografen eine außerordentliche Bewegungsqualität mit bestechender Präzision bei maximaler Virtuosität auf. Zugleich liefern die Tänzer zur Musik unter anderem von Stevie Wonder ein Stück fröhlichen Tanzes für das 21. Jahrhundert.

Wenige Minuten nur ist Battles Solo »Takademe« (1999) lang. Die aber geht es zur Sache. Kanji Segawa darf darin zum rollenden Lautgesang von Sheila Chandra Jazz und indischen Kathak in eine faszinierende Synthese verfugen. Die rhythmisch ausgestoßenen Silben fahren dem Tänzer bravourös in alle Glieder, bis er dem treibenden Sound nur noch durch Kniefall entkommen kann.

Bloß zwei Jahre jünger ist Battles »The Hunt«. Sechs Männer, nackt der Oberkörper, in schwarzen Röcken, deren Innenseite glutrot aufwallt, zelebrieren wiederum in vehementem Tempo und mit plastischen Posen eine Art Ritual zwischen Beschwörung und Jagd. Die Trommeln von Les Tambours du Bronx heizen in farbigem Licht den athletischen Körpern ein bis zum Exzess, bei dem am Ende alle Opfer sind.

Glanzpunkt des Abends: Aileys »Revelations« als Bilderbogen um die Offenbarungen der Bibel, zugleich atmosphärischer Einblick in die tiefe Frömmigkeit vieler Farbiger. Um den Flug der Seele hin zu Gott geht es in dem dreiteiligen Werk, um das Reinwaschen von Sünde, die Bereitschaft zu Demut, um die inbrünstige Anbetung beim sonntäglichen Kirchgang.

Nirgendwo steht hier Virtuosität für sich selbst, der Tanz dient mit grandiosem Formempfinden der Aussage gläubiger Humanität. Eine choreografische Reliquie ist das, getragen von furiosem Gospel- und Spiritualgesang, getanztes Weltkulturerbe von vibrierender Intensität, präsentiert von einer vulkanisch überschäumenden, hier dennoch ganz dem Inhalt dienenden Company der Sonderklasse.

Bis 17.7., Deutsche Oper, Bismarckstr. 35, Tel.: 34 38 43 43

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal