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Der vergessene Dritte

Vor 100 Jahren wurde der Physiker Karl Günter Zimmer geboren

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Geschichte der Naturwissenschaften kennt viele sogenannte klassische Aufsätze, von deren Verfassern einige im Nachhinein berühmt wurden, während die anderen weitgehend in Vergessenheit gerieten. Ein solcher Aufsatz erschien auch im Juni 1935. Er trug den Titel »Über die Natur der Genmutation und der Genstruktur« und gilt heute als eine Art Geburtsurkunde der Molekulargenetik. Denn darin wurde das, was Biologen zuvor etwas vage ein Gen genannt hatten, als »stabiler Atomverband« charakterisiert, in dem durch die Einwirkung von Röntgen- oder Radiumstrahlen eine Atomumlagerung und damit eine Mutation stattfinden kann.

Zwei der Autoren dieses vornehmlich in Berlin-Buch entstandenen Aufsatzes findet man heute in jeder Darstellung zur Biologiegeschichte: den Physiker und späteren Medizin-Nobelpreisträger Max Delbrück sowie den russischen Genetiker Nikolai Timofejew-Ressowski. Aber es gab noch einen dritten Autor, der hauptsächlich den quantitativen Zusammenhang zwischen Strahlendosis und Mutationsrate untersucht hatte: Karl Günter Zimmer.

Zimmer wurde am 12. Juli 1911 in Breslau geboren. Er studierte in Berlin Physik, Chemie und Philosophie und arbeitete ab 1933 in der von Timofejew-Ressowski geleiteten genetischen Abteilung am Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung in Berlin-Buch. Hier war als Gastforscher auch der spätere US-Nobelpreisträger Hermann Joseph Muller tätig, der eine engere Zusammenarbeit von Biologen und Physikern anregte. Ein Resultat dieser frühen interdisziplinären Kooperation war die eingangs erwähnte »Dreimännerarbeit«, die vermittelt über Delbrück, der 1937 in die USA ging, auch James Watson und Francis Crick beeinflusste. Beide entdeckten 1953 die Doppel-Helixstruktur der DNA.

Zimmer blieb bis 1945 in Berlin, wo er und Timofejew-Ressowski die Ergebnisse ihrer strahlengenetischen Forschungen in dem Buch »Das Trefferprinzip in der Biologie« niederlegten, das 1947 erschien. Obwohl er nicht der NSDAP angehörte, war Zimmer auch an Projekten beteiligt, die nach einem Erlass Hitlers als »kriegswichtig« galten.

Im September 1945 wurde Timofejew-Ressowski von NKWD-Offizieren in die UdSSR gebracht und dort zu zehn Jahren Gulag-Haft verurteilt. Zimmer kam als ausländischer Spezialist zunächst in ein Lager bei Krasnogorsk und danach in die Arbeitsgruppe des deutschen Nuklearchemikers Nikolaus Riehl, der in Elektrostal bei Moskau den Aufbau einer Uranfabrik leitete.

Nachdem die Sowjetunion 1949 ihre erste Atombombe gezündet hatte, untersuchte man in der Folge verstärkt den Einfluss von radioaktiver Strahlung auf lebendige Organismen. Dies geschah vorrangig im westsibirischen Sungul, in einem geschlossenen Lager namens »Laboratorium B«, wo Zimmer auch Timofejew-Ressowski wiedertraf, der zuvor aus der Gulag-Haft entlassen worden war.

1955 stand neben Riehl auch Zimmer auf einer Liste von 18 deutschen Spezialisten, die am sowjetischen Atombombenprojekt mitgearbeitet hatten und nun in die DDR zurückkehren sollten. Doch kaum dort angekommen, setzten sich beide in den Westen ab. Auf Empfehlung von Werner Heisenberg, der Zimmer als »ausgezeichneten Strahlenbiologen« würdigte, ging dieser nach seiner Habilitation und einem Forschungsaufenthalt in Schweden an die neu gegründete Reaktorstation in Karlsruhe. Hier übernahm er das Institut für Strahlenbiologie und lehrte außerdem als Professor an der Universität Heidelberg. Am 29. Februar 1988 starb Zimmer in Karlsruhe an den Folgen eines Herzinfarkts.

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