Die verwundete Stadt

Vor zehn Jahren wurde beim G8-Gipfel in Genua der Demonstrant Carlo Giuliani erschossen

  • Anna Maldini
  • Lesedauer: 4 Min.
Wenn man an den G8-Gipfel 2001 in Genua denkt, weiß kaum jemand mehr, was damals von den Staats- und Regierungschefs beschlossen wurde. Aber fast jeder hat die Bilder von Carlo Giuliani vor Augen, der tot auf dem Asphalt der Piazza Alimonda liegt – tot, weil der Polizist Mario Placanica auf ihn geschossen hat.

»Genua ist eine verwundete Stadt«, sagt Marta Vincenzi, Bürgermeisterin der Hafenstadt. Den zehnten Todestag von Carlo Giuliani will sie »vereint« begehen. »Wir hoffen«, sagt die Frau, die damals selbst an einem der großen Protestzüge gegen den G8-Gipfel teilgenommen hat, »dass wir gerade in Genua wieder über Frieden und Solidarität reden können, wie wir es damals begonnen haben.« Sie ist überzeugt: Damit das möglich wird, muss die Politik Verantwortung übernehmen.

Die Ereignisse zwischen dem 20. und 22. Juli 2001, als »die allgemeinen Menschenrechte in einem Maße verletzt wurden, wie es in Europa in der jüngsten Vergangenheit nie geschehen war« (Amnesty International), sind bis heute nicht lückenlos aufgeklärt. Vincenzi fordert einen Untersuchungsausschuss, der Klarheit über die Kommandostruktur für den brutalen Polizeieinsatz schafft.

Der Polizist, der die tödlichen Schüsse auf den 23-jährigen Carlo Giuliani abgegeben hatte, wurde in allen Instanzen der italienischen Justiz und praktisch auch vom Europäischen Gerichtshof für »nicht schuldig« erklärt, da er in Notwehr gehandelt habe. Nach wie vor sind viele Fragen offen: Gab wirklich Placanica die Schüsse ab? Einige Fotoaufnahmen lassen etwas anderes vermuten. Wer saß in dem Polizeiwagen, aus dem geschossen wurde, und warum ist er gleich zwei Mal über den Demonstranten hinweg gerollt, als dieser vielleicht schon tot, aber vielleicht auch nur schwer verletzt am Boden lag? Und wer war es, der dem Jugendlichen die Mütze vom Kopf riss und ihn möglicherweise noch einmal mit einem Stein malträtierte?

Da die Eltern von Carlo Giuliani in den verschiedenen Strafprozessen keine hinreichenden Antworten erhalten haben, werden sie jetzt in einem Zivilprozess gegen Placanica vorgehen: »Nicht um Geld zu erhalten, sondern weil dies heute die letzte Möglichkeit ist, um der Wahrheit wenigstens ein Stück näher zu kommen«, sagen sie.

Prozesse gab es auch wegen des brutalen Sturms auf die Diaz-Schule, in der viele Demonstranten übernachteten und bei dem etwa 100 Jugendliche von Polizisten zum Teil lebensgefährlich verletzt wurden. Bewiesen ist, dass die Polizei Waffen in die Schule geschmuggelt hatte, um sie hinterher »finden« zu können, und sogar Aggressionen gegen einzelne Polizisten vortäuschte, um diese dann »zu rächen«. 25 Beamte – darunter hohe Offiziere – wurden deswegen zu insgesamt 98 Jahren Gefängnis verurteilt. Aber – und das ist eine der Wunden, von denen die Bürgermeisterin von Genua spricht – keiner von ihnen wurde vom Dienst suspendiert, niemand musste hinter Gitter, vielmehr wurden die meisten in den folgenden Jahren befördert.

Ähnlich sieht es bei den Verantwortlichen der Gewalttaten in der Kaserne Bolzaneto aus, wo Dutzende Demonstranten tagelang unrechtmäßig festgehalten und psychisch und körperlich gefoltert wurden. Es hat Verurteilungen gegeben, aber die Schuldigen sind alle auf freiem Fuß und viele von ihnen bekleiden heute höhere Positionen als damals.

Zehn Jahre nach den Ereignissen sind viele Opfer noch immer traumatisiert. In einer gerade veröffentlichten psychologischen Studie ist etwa von einem Arzt die Rede, der eine Phobie vor Uniformen hat, seit er damals in dem Genueser Krankenhaus einen Polizisten sah, der einen schon schwer verletzten Demonstranten zusammenschlug.

Insgesamt drei Wochen dauern die Initiativen zum zehnten Jahrestag der Ermordung von Carlo Giuliani. An der Piazza Alimonda wird es eine Lesung geben, ein Gedenkumzug mit Kerzen führt zur Diaz-Schule, für Sonnabend ist eine Demonstration geplant. Die verschiedensten Organisationen und Gruppen haben sich dafür zusammengefunden: Stadtverwaltung und Gewerkschaften, Migranten und Studenten, Umweltschützer und Atomkraftgegner.

Eine der beteiligten Organisationen mit dem Namen »Cassandra« wird von Haidi Gaggio geleitet, der Mutter Carlo Giulianis. »Cassandra sagte die Wahrheit und niemand wollte ihr glauben. Genua und die Bewegung haben vor zehn Jahren die Wahrheit gesagt, als sie von Rechten und sozialer Ungleichheit sprachen«, sagt sie. Sie will bei den politischen Inhalten anknüpfen, die von der Gewalt überdeckt wurden. »Das Drama der Unterdrückung hat die Botschaft versteckt. Heute können wir von Neuem beginnen«, hofft sie. Das Motto der Gedenktage entspricht diesem Wunsch: »Sie sind die Krise. Wir sind die Hoffnung«, lautet es. Foto: dpa

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