Der Ikarus vom Lautertal

In der Schwäbischen Alb erinnert eine eigentümliche Flugschau alle zwei Jahre an den Visionär Gustav Mesmer

  • Holger Reile, Konstanz
  • Lesedauer: 6 Min.
Erst kürzlich wurde auf der Schwäbischen Alb der Gustav-Mesmer-Flugradpreis verliehen. Kinder und Jugendliche erinnerten mit ihren fantasievollen Flugmodellen an einen Erfinder, Tüftler und Bastler, der rund vierzig lange Jahre in psychiatrischen Anstalten verbringen musste.
Erinnern an Gustav Mesmer: ein Starter beim Flugrad-Wettbewerb in Buttenhausen
Erinnern an Gustav Mesmer: ein Starter beim Flugrad-Wettbewerb in Buttenhausen

Alle zwei Jahre findet in Buttenhausen (Baden-Württemberg) eine eigentümliche Flugschau statt – genauer: ein Flugrad-Wettbewerb. Sie ist dem Visionär Gustav Mesmer gewidmet, der dort die letzten Jahre seines wechselvollen Lebens verbrachte. Der Zuschauerzuspruch ist stets groß: Der SWR berichtet regelmäßig live für Hörfunk und Fernsehen, wenn die Teilnehmer des Wettbewerbs um den Flugradpreis der Gustav Mesmer-Stiftung – meist zehn bis 15 an der Zahl – gegeneinander antreten. Doch wer war Gustav Mesmer?

1903 wird Gustav Mesmer im oberschwäbischen Altshausen geboren. Jahrzehnte später schreibt er dazu in seiner seltsamen, unverwechselbaren Sprache: »Drei Sylvester, 16 Tage nach der Jahrhundert-Illumination und deren Salvenkrachen erfolgte mein Geburtstag. Jedenfalls war es Winter, die Dächer und Felder mit Schnee überkleidet, (...). Es war ja noch in der Zeit, als die Petroleumlampe an der Decke und auf dem Tische sich befand ...«

Eklat bei der Abendmahlsfeier

Mesmers Vater war Verwaltungsfachmann, die Mutter kümmerte sich um die insgesamt elf Kinder. Aufgewachsen ist der Junge in einem streng katholischen Umfeld, die Familie ist seit Generationen in Oberschwaben zu Hause.

Mesmers Schulausbildung wird durch den Ersten Weltkrieg unterbrochen. Er arbeitet auf Bauernhöfen als »Verdingbub«. Die Kriegsjahre sind hart, die Familie kann die vielen Esser nur mit Mühe ernähren. Dann, bei der Arbeit im Kloster Untermarchtal, empfehlen ihm die Schwestern, in einen Orden einzutreten: »Sie gäbten doch so ein schönes Päterchen«, sollen sie laut Mesmer gesagt haben.

Der junge Mann befolgt den Rat, 1922 geht er ins Kloster Beuron. Als Bruder Alexander verbringt er fast sechs Jahre hinter Klostermauern. Doch es gefällt ihm nicht, von einem klösterlichen Leben habe er ganz andere Vorstellungen gehabt, resümiert er rückblickend: »Da kann nur ein lebensunerfahrener hereinfallen wie ich.«

Enttäuscht und deprimiert kehrt Mesmer 1928 wieder nach Altshausen zurück. Seine Eltern sind darüber nicht glücklich, denn eine Klosterlaufbahn gilt in jenen Zeiten noch als etwas Besonderes. Die Aufnahme in einem Kloster bedeutet damals wirtschaftliche Sicherheit und ist mit gesellschaftlichem Prestige und sozialer Anerkennung verbunden.

Zuhause beginnt Mesmer mit einer Schreinerlehre, vom Meister erhält er eine gute Beurteilung. Aufgefallen sei aber, so heißt es, »sein eigenes und stilles Wesen«. Kurz darauf ein tiefer Einschnitt in seinem noch jungen Leben: Wohl geprägt von den für ihn ernüchternden Kloster-Erlebnissen, stört Mesmer eines Sonntags in der evangelischen Kirche in Altshausen die gerade stattfindende Konfirmations- und Abendmahlsfeier. Er stürmt in die Kirche und erklärt lauthals, dass hier »nicht das Blut Christi« ausgeteilt werde und sowieso »alles Schwindel« sei. Mesmer wird von aufgebrachten Kirchgängern hinaus gezerrt und nach Hause gebracht.

Der »Kirchenstürmer« wird zum Tagesgespräch im ansonsten ereignisarmen Gemeindealltag. War der Gustav nicht immer schon ein kauziger Sonderling gewesen? Man ist sich schnell einig: Der Gustav tut nicht gut, der Gustav muss weg.

Knapp zwei Wochen nach seinem »geistigen Überschwang«, wie er seine Aktion einmal nannte, wird Mesmer in das Psychiatrische Landeskrankenhaus Bad Schussenried eingeliefert. Die erste Diagnose ist schnell gestellt: paranoide Schizophrenie. Am 10. Oktober 1932 taucht in Mesmers Krankenakte zum ersten Mal der Hinweis auf: »Hat eine Flugmaschine erfunden, gibt entsprechende Zeichnungen ab.« Angeblich hat er in einer Illustrierten einen Bericht über zwei Erfinder gelesen, die mit einem Fahrrad fliegen wollten. Diese Idee begeistert Mesmer, der Flug durch Muskelkraft treibt seine Fantasie in schwindelnde Höhen. Er konstruiert und bastelt an Flugmodellen, in der Anstalt wird er verlacht: »Erfinder-Allotria«, steht in der Krankenakte.

Anstaltsleitung behielt Mesmers Briefe ein

Den Naziterror – zehntausende Menschen werden in den psychiatrischen Anstalten von den braunen Machthabern umgebracht – überlebt Mesmer mit viel Glück. Sein Name taucht auf keiner der Transportlisten auf, die in den sicheren Tod führten. Vermutlich deswegen, weil er als guter Arbeiter gebraucht wurde. Während dieser Zeit drängt er auch mehrmals auf seine Entlassung, bleibt aber ungehört.

1949 wird Gustav Mesmer auf eigenen Wunsch in das Psychiatrische Landeskrankenhaus Weißenau verlegt, nicht weit weg von seinem Heimatdorf Altshausen. Hier verbringt Mesmer die folgenden 15 Jahre. Er erlernt die Korbflechterei und wird als »geschickter und fleissiger Arbeiter« gelobt. Mesmer vermisst schmerzlich seine Heimat, sehnt sich nach einer bürgerlichen Existenz. An die Tochter eines Pflegers schickt er rührende Zeilen: »Ob Sie, wertes Fräulein, Lust und Liebe, meine Gattin werden zu wollen?«

Was Mesmer nicht weiß: die meisten seiner Briefe werden von der Anstaltsleitung einbehalten, man macht sich lustig über den Träumer. Die Ärzte nennen Mesmers Wünsche und Hoffnungen »Beziehungsideen«.

Unverdrossen befasst er sich weiter mit seinem Traum vom Fliegen, schreibt zudem Texte und Abhandlungen, die sich meist mit dem Weltall oder religiösen Fragen beschäftigen. In seiner Akte findet sich 1951 der Vermerk: »Auffallend zeichnerische Begabung«.

1966 wird Mesmer in eine betreuende Einrichtung nach Buttenhausen auf der Schwäbischen Alb verlegt, weil dort »gerade ein Platz frei war«, heißt es in seiner Krankenakte. »Seine Wahnerlebnisse«, so der letzte, kalte Eintrag, »kommen lediglich in Briefen oder sonstigen Schreiben zum Vorschein. Sie scheinen an Bedeutung für ihn verloren zu haben.«

In seiner neuen Umgebung wirkt Mesmer anfangs ängstlich und verschlossen. Aber dann beginnt er schnell wieder mit der Korbflechterei und pflanzt seine Weiden am Ufer der nahe gelegenen Lauter. Einmal hat er sogar einen Lehrling, den er aber bald wieder fort schickt. »Der hat ja schon beim Nichtstun geschwitzt.«

Die Heimleitung in Buttenhausen unterstützt den Tüftler und Bastler und weist ihm eine kleine Werkstatt zu. Hier entwickelt Mesmer nicht nur Flugfahrräder, sondern zunehmend auch Schwingenfluggeräte, die durch Muskelkraft der Arme auf und ab bewegt werden können. In einem nahegelegenem Wald baut er sich eine Flugschanze, darunter legt er alte Matratzen und Strohballen: »Wenn's schief goht'«, sagt er.

In der Bevölkerung nennt man ihn bald liebevoll den »Ikarus vom Lautertal«. Er gehört dazu, wird zum ersten Mal in seinem Leben vorbehaltlos akzeptiert. Sein Erfindungsgeist kennt keine Grenzen. Aus seiner Buttenhausener Zeit sind viele Skizzen und Zeichnungen erhalten geblieben. Er malt mehrere Bildserien von überwiegend naiv geprägter, faszinierender Schönheit. Erste Ausstellungen in Münsingen, Mannheim, Recklinghausen, Ulm, Lausanne und Wien werden überall begeistert aufgenommen.

Vertreten auf der Weltausstellung 1992

Den Höhepunkt seiner späten Karriere erlebt Mesmer 1992. Dort steht eines seiner Flugräder auf der Weltausstellung im spanischen Sevilla als Beitrag der Bundesrepublik zum Thema: »Der Traum vom Fliegen«. Mesmer wird zur Ausstellungseröffnung eingeladen, ein Platz im Flieger ist schon für ihn gebucht. Als man ihm aber erklärt, dass Spanien nicht gerade um die Ecke liege und er ein paar Tage außer Haus sei, sagt er ab: »Da bleib i' liabr' dahoim.«

Doch der für ihn persönlich wichtigste Tag kam ein Jahr später. Mitte 1993 kehrte Gustav Mesmer endgültig in seine Heimatgemeinde Altshausen zurück, 64 Jahre nach dem Kirchenvorfall und der Einweisung in die Psychiatrie. In einer großen Ausstellung wurde gezeigt, was er in den letzten Jahrzehnten geschaffen hat. Still saß er da und aus seinem Gesicht, in das das Leben so viele Falten gemeißelt hatte, strahlten seine immer wachen Augen. Und was ihn besonders freute: Auf der Ausstellungs-Einladung stand: Gustav Mesmer – Flugradbauer von Altshausen.

Weihnachten 1994 ist Gustav Mesmer in Buttenhausen gestorben. Seit seinem Tod kümmert sich die Gustav Mesmer-Stiftung um den Nachlass des Erfinders und präsentiert immer wieder viel beachtete Ausstellungen.

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