Kuckuck

Joachim John

  • Lesedauer: 8 Min.

Berlin Ost 1965

Die vier Akademieschüler hängen auf dem Wege zum verehrten Altmeister der proletarischen Malerei in den Halteschlaufen des ruckelnden Stadtbahnwagens. Sie lassen sich übermütig schaukeln und duellieren sich mit abwesenden Feinden und Freunden, die Feinde werden sämtlich ermordet. Konkurrenz gibt es untereinander nicht. Man köpft und meuchelt hin und her, alles im verbalen Spaßrahmen der Unmöglichkeiten. Ernsthaft solidarisch sind sie gegen Politbanausen, Dummheit oder Arroganz von Statthaltern, aus deren Näpfen sie aber alle fressen. Künstler können sich ja nicht die Kulturfunktionäre aussuchen, die Statthalter aller Etagen können sich zu ihrem grossen Ärger keine Künstler erfinden. Politische Puppen selber zu formen, misslingt ihnen gründlich. Wenige pygmalische Missgeburten, von ihren Schöpfern gelobt, von allen anderen verlacht, schleichen am Rande der Szene umher, im Schatten der grell homogen politisch ausgeleuchteten Proszeniumlogen.

Bald heben alle einen russischen Wodka oder gar einen französischen Cognac auf die Gesundheit des berühmten alten Malers. An den Handgelenken seiner Frau Vilma, Tochter eines zaristischen Generals, poltern dicke, bleiartige mehrmals gewundene Ketten. Die Domina stellt eine Schale voll Zigaretten in die Mitte und sagt, müssen wir heute mal die Scheiße rauchen, keine Marlborrro, keine Schteuiwesant! Ich weiß nicht, ob sie haben meinen Schieber geschnappt. Solche Begrüßung kommt Kuckuck im Hause des alten Kommunisten so absurd vor, dass er meint, überhaupt nichts gehört zu haben. Der greise Maler, flach wie eine Spielkarte, sitzt, wie seine gewichtige Gattin zügig rauchend vor Originalgemälden seiner Frühzeit, deren Reproduktionen alle aus Büchern kennen.

Es war im Jahre 1912 oder 14, jedenfalls noch vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges, da sah ich im Schaufenster eines Schreibwarenladens das Bild von Leuten, die bei Tische sitzen und essen. An dem Laden ging ich täglich vorbei, ich arbeitete bei einem Glasermeister. Je öfter ich dieses Bild sah, umso besser gefiel es mir. Ich wollte nicht nur die Glasmalerei erlernen, ich nahm mir nun fest vor, ein richtiger Maler zu werden und solche Bilder zu machen. Dann will ich den Maler, dessen Bild mir so gut gefällt, besuchen und ihm meine Zeichnungen und Bilder zeigen. Aber was ich so bewunderte, waren die Kartoffelesser von Vincent van Gogh. Viel später, in den zwanziger Jahren, habe ich dann selber ein Kartoffelesserbild gemalt. Es ist wie viele Bilder verschwunden.

Beim Benutzen des Aschenbechers rumpeln Frau Vilmas schwere Ketten. Sie schimpft über falsch besetzte Posten in der oberen Statthalterei und die dämliche Außenpolitik der neuerdings befehlenden Großen Bären. Frau Vilma findet alles falsch und dumm und dämlich. Durak, durak! Dummkopf, Dummkopf! Als einer der Vier wagt, sich über die Sturzbäche ihrer Enttäuschung von der Welt und die Schlechtigkeit und Verräterei aller gemeinsamen Bekannten zu wundern, du Primus, wenn du nicht hältst Schnauze, faucht sie durch Rauchwolken, gehst du naus in Garten!

Im bürgerlichen Wohnzimmer auf dem Tisch Kuchen, Cognac, Wodka und Zigaretten. Der Hausherr spricht heiser und ruhig über berühmt bekannte Ölbilder, die an dreien der Wände hängen. Seine Frau bebelfert die Pausen, die er zum Husten braucht, mit Unverschämtheiten gegenüber Regierungen, Statthaltern, den Schülern unbekannte Nachbarn oder deren Gärtner und klappert mit ihren Ketten in der inzwischen schlechten Luft, wenn sie beim Denunzieren und Verfluchen fuchtelt.

Die Vier werden von der Künstlertochter ins Atelier des Vaters geführt. Unter allen dunklen Menschenbildern bewundert Kuckuck besonders das hellfarbige Brustbild »Der Idiot«.

Frau Vilma hatte ein Fenster und eine Tür geöffnet. In der Schale auf dem Tisch liegen neue Zigaretten. Der Kommunist sitzt noch im selben Lehnstuhl, bezogen mit dem gleichen braunen Cord wie die übereinander geschlagenen langen Beine. Das elende deutsche Jahrhundert der Extreme. Hoffnung, Verleumdung, Verführung, Verirrung, Verhaftung. Die feindlichen Klassen mit ihren Mitläufern, Zuträgern, Karrieristen, politischen Strichjungen und Mördern und trotz Niederlagen Verlässlichkeit, Solidarität und wieder neue Hoffnung. Das deutsche Wohnzimmer ist bald wieder rauchig. Kuckuck entdeckt hinter Frau Vilma eine Fotografie des Ehepaares bei Kriegsende 1945. Beide, auch die nun regierende Domina von Not ausgezehrte, dürre Gesichter. Das Bild ist reichlich zwanzig Jahre alt.

Kuckuck wartet auf die Straßenbahn. Gegenüber der Haltestelle ein breiter Hausflur, der zu den Wohnungen des Vorderhauses, zweier Seitenflügel und mehrerer Hinterhöfe, wieder mit Seitenflügeln, führt. Auch zur Hintertür der Sparkasse. Ein überaus dicker, wohl anderweitig unbrauchbarer, plattfüßiger Polizist schreitet heraus. Spreizstiefelig geht er in Stellung, man sieht ihm an, dass er jetzt offiziell dienstlich in der offen gebliebenen Tür steht. Zeremoniell zündet er sich eine Zigarette an, anschließend guckt er so, dass Kuckuck das Profil eines zahmen Hausschweins erkennt, zur Kreuzung. Von dort kommt ein erwarteter, weißer, ramponierter Kastenwagen. Ein junger Mann springt im Trainingsanzug der Nationalen Volksarmee heraus, schlägt die Hecktür auf und langt behände aus dem Inneren eine Sackkarre. Der Dicke sagt etwas, der andere antwortet mit vorgestrecktem Hals. Es sieht so aus und hört sich an, als ob er dem Polizisten etwas befiehlt oder statt der Begrüßung einen durchaus nötigen Verweis erteilt. Der nimmt seinem fetten Gesicht die frisch angerauchte Zigarette weg, hält sie hinter sich und gibt den Eingang frei.

Kolumbien 1982

Im kupfergrünen Luftmeer der Cordillere taumelt ein schwarzes Blatt, ein trunkenes Boot. Die trockenen Hände zusammengelegt zum Turm der Kathedrale, die Gottesanbeterin Ciudad Manizales. Harte Winde schmirgeln der Königspalmen zementene Schäfte und fleddern ihre finsteren Struwwelköpfe in böser Helle.

Im unbarmherzigen Regen häuten sich der Berge erdkrustige Panzer zum Entsetzen der Armen. In stinkende Schluchten stürzt das Geschäft aus zwei unregelmäßigen Brettern, sonnengebleichte Knochen, darauf die Früchte wie duftige Gemächte in stöhnenden Farben sich prostituieren, darunter im Schatten liegt der Indianer, eine Cocaflasche mäßig hinauflangend, um die Früchte zu bespritzen und glänzend zu halten. In bunten, sumpfigen Auswurf, unentschieden schwebend zwischen den Aggregatzuständen, brechen hinab die Tresen aus Apfelsinenkisten. Am Rande der Welt bleiben stehen die Barhocker, keramische Kanalröhren gefüllt mit Kies. Im Giftdampf poppiger Plaste, im Husten der Flaschensucher hacken schwarze, truthahnköpfige Geier.

Hinter störrischen Sträußen von Eisendornen wie verbrannten Diestelblüten und tropisch rostendem Baugestrüpp ein vergessenes, unordentliches Nest aus Betonblättern ist der Bahnhof. Da endet eine Strecke, die niemand bereist, es sei denn nach García Márquez' Macondo, wo noch niemand war. Den Vielen, die einst hergetaumelt durch alle Winde der Erde als trächtige Samen, fehlt schon die Kraft zur Sehnsucht nach Veränderung, nach dem nahen Buenaventure, nach dem Gestöhn der Kräne, nach der gebundenen Freiheit der Schiffe, nach meerweiter, pazifischer Aussicht auf Besserung, nach den Überraschungen der Stürme, den gewaltsam beschenkten Stränden danach, dem Gebrüll des Meeres im Wechsel, sogar nach dem leichten Rausch Erwartung, den Spiegeln der Fremde, nach alter und neuer Speisen und Getränke Sättigung des Magens und der Sinne. Es hätte der Rüstung Tätigkeit bedurft, die anzulegen sie nicht mehr die Kraft haben und nicht mehr, abzutun das Steinkleid der Lethargie.

Am Tor zur Unterwelt hocken Kinder wie Harpyien, die Ärmsten, Übernächtigten, Ungespeisten. Schief an den Mauern der überschwemmten Untertunnelung lehnend, treppab zunehmend dichter, Gefährliche, denen aufgegeben ist zu rauben, um zu überleben, die hungriger und bedürftiger sind als die über ihren Köpfen arbeitenden Betrüger, deren Tun einer gewissen Organisation bedarf, die mit den hilflosen Waffen südländischer Beredsamkeit, Anhänglichkeit und Ausdauer kämpfen, welche die Kraftlosen unten verlassen hat. Doch ihre seltenen Taten sind eruptiv und ungeahnt, sie stechen ohne Vorwarnung und ohne auszuholen.

Tief unten im Gedränge die von Ausnahmen essen, den Schweiß Verfolgter trinken, die aus Wunden anderer leben, die im Duft frischesten Aases sich die Köpfe benebeln, die gierig Sensationen statt das zu teure Marihuana atmen.

Im Rußwasser knietief Christophorus oder Charon ohne Kahn, nackt mit zwei Feuerfetzen, den winzigen euphemistisch zwischen den Salamanderschenkeln, den lodernden, theatralischen über die weißen Ringe der Augen gebunden.

Am schwitzenden Steinufer des Acheron schwanken die Schatten der Gewesenen, die in der Oberwelt keinen Platz finden, denen niemand Platz gibt zum Leben und nicht zum Begrabensein, die keinen Obolus besitzen, denen niemand einen Peso in den Mund legt für die letzte Überfahrt. Sie warten darauf, dass der Sohn des Erebos, des Dunkels, der Erdentiefe und der Nacht sie ergreift.

Der setzt über das schwarze Wasser Styx, dessen eines Kind Bia war, die Gewalttätigkeit, durch den schaukelnden Brei mit schwimmendem Kot und wippenden Marlboro-Schachteln, trägt durch die finstere Furt Männer bei stumpfem Gegröhle und Weiber unter Pfiffen in schalltotem Raum und trockenem Geknatter spanischer Zoten auf seinem öligen Rücken, einem gleißend geflügelten, riesenhaften, schwarzen Herz.

Info:

Joachim John, geboren 1933 in Tetschen/Böhmen, ist Maler, Grafiker und Autor. Die Familie wurde 1945 ausgesiedelt. Nach Abitur und verschiedenen Tätigkeiten studierte er Kunsterziehung, wurde Meisterschüler bei Theo Richter und arbeitete ab 1966 als freischaffender Künstler in Berlin. Seit 1977 lebt er in Neu Frauenmark bei Schwerin. John, mehrfach mit renommierten Preisen bedacht, ist Mitglied der Akademie der Künste Berlin. Er schrieb Hörspiele, veröffentlichte die Bücher »Colombiana«, »Der Stubenreiter«, »Zoo«, »Bornholm«, sodann den ersten Teil seiner literarischen Autobiografie »bube john« im Verlag Das Neue Berlin. Für den zweiten Teil »Kuckuck«, aus dem hier zwei Passagen erstveröffentlicht sind, gibt es noch keinen Verleger.

Volker Braun über John:

»Er sagt wie immer: ›Ich zeichne zur Zeit.‹ Auch was er zur Zeit schreibt, ist genau, hart, verläßlich. Die Mitteilungen aus der Werkstatt während des Umbruchs sind phrasenlos. Sein sozialer Sinn nimmt das Auseinanderliegende wahr: die elementare Verwerfung auf dem flachen Land, die Flurbereiningung in der Hauptstadt Berlin.« (Aus Joachim John. Nach vorne fliehen. Briefe und Radierungen 1989 - 2001, Berlin 2003).

Stefan Amzoll

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