Schonungslose Selbstbezichtigung

Franz Fühmann und seine Novelle »Kameraden« (1955)

  • Horst Nalewski
  • Lesedauer: 5 Min.

Das Wort »Kameraden« hat zwei Seiten. Es bürgerte sich im Deutschen in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges ein: »Rott- oder Spießgesellen, die jetzt auff new-teutsch Camaraden heißen«. Andererseits erinnert man sich der Verse des 22-jährigen Ludwig Uhland aus dem Jahre 1809, Zeit der Napoleonischen Kriege«: »Ich hatt' einen Kameraden, / Einen bessern findst du nit. / Die Trommel schlug zum Streite, / Er ging an meiner Seite / Im gleichen Schritt und Tritt.« Ihn trifft die Kugel. »Er liegt mir zu den Füßen, / Als wär's ein Stück von mir.« Es bleibt ein Trost- und ein Erinnerungswort: »Bleib du im ew'gen Leben / Mein guter Kamerad!« Und es blieb die Brauch- und Missbrauchbarkeit selbst dieser Strophen bis in die Gegenwart.

Als Fühmann die 50 Seiten seines Romans 1953 seinem Lektor im Aufbau-Verlag, Max Schroeder, vorlegte, ereignete sich ihm eine Katastrophe: Der Rotstift wütete! »... was schließlich blieb, war, neben der ausdrücklichen Billigung des Gesamtplans, der Titel. Der ist großartig, sagte Schroeder, und das andere lernst du schon noch!« Und es glückte. Fühmann arbeitete wie ein Besessener. Es sollte Prosa werden, auch noch eine Novelle. Nach zwei Jahren war sie fertig, erschien im Aufbau-Verlag und erfuhr sogleich die Anerkennung Stephan Hermlins und Ludwig Renns sowie die Bewunderung von Louis Fürnberg. Sie wurde verfilmt – »Betrogen bis zum jüngsten Tag« – und in viele Sprachen übersetzt. Eine »unerhörte Begebenheit«, von der 1968 abermals Stephan Hermlin sagte: »Man liest sie mit der gleichen Spannung wie vor ... Jahren.« Ich möchte sagen: Auch heute noch, mit Fassungslosigkeit.

Kehrt man nach dem letzten Satz zum Eingang zurück: »Im Juni des Jahres 1941, an der Memel, geschah es, dass drei Soldaten ... gemeinsam ihren großen Tag hatten«, dann weiß man: Mit diesem Satz wird eine Tragödie angekündigt. Denn »der große Tag« ihrer Auszeichnung als beste Schützen der gesamten Division ist zugleich der Tag ihres Verhängnisses.

Vom Dienst befreit, machen sich die Drei auf den Weg zu einem benachbarten Grenzdorf in der Hoffnung »auf Mädchen« oder eine »Kneipe«. Als plötzlich am Himmel ein wunderbarer Vogel auftaucht, reißen sie ihre Gewehre hoch. In diesem Moment vergeblich. Allein der Dichter weiß mehr, weiß, warum: »Der Vogel ähnelte einem Reiher ... er schwamm schnell durch die Luft, schraubte sich hoch und stand dann, flügelschlagend, ein unheimliches schwarzes Zeichen, im kristallenen Himmel.« Als er sich jedoch, kurz von ihnen entfernt, in einem Weidengebüsch niederlässt, schießen sie und treffen sie ihn – und treffen ein junges Mädchen, das sich zum Sonnen dort am Bachrand gelagert hatte. Die Tochter ihres kommandierenden Majors.

Das hätte sie vor das Kriegsgericht gebracht, denn das Schießen, nahe der Grenze, war strengstens verboten. So verscharren sie die Leiche in dem sumpfigen Gelände, und der Jüngste von ihnen, Thomas, der nicht zum Schuss gekommen war, muss schwören: »Wenn ich euch verpfeife, Kameraden, dann habe ich den Tod verdient!« Von diesem Augenblick an wird der Begriff »Kameraden« zum Leitmotiv der Novelle; er pervertiert zu den eingangs genannten »Rott- oder Spießgesellen« in einem Ausmaß wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte. Die Nazi-Ideologie hatte die drei mit einer Ausschließlichkeit besetzt, durchaus individuell, dass nicht der geringste Raum für ein anderes Denken blieb. Karl, der Älteste, war schon im Freikorps gewesen, hatte dort manchen »umgelegt«. Josef, Sohn eines höheren SS-Offiziers, holte sich alle Rechtfertigung aus Nietzsches »Zarathustra«, dem Mythos der Macht, der Gefahr und des Todes. Thomas allein, Mittelpunktfigur, dem Erzähler am nächsten, durchlebt in wenigen Tagen ein Martyrium indoktrinierter »Treue« und peinigenden Gewissens. Er zerbricht daran. Von den »Kameraden« in den Tod getrieben.

Zehn Jahre nach dem Krieg spricht ein Überlebender, ein Verwandelter, das Urteil über den Einen, über die Drei, von denen der Leser spürt, sie waren Stellvertreter für die vielen. Dies ist das Vermögen bedeutender Literatur, im Einzelnen das Allgemeine zu treffen. In der Auskunft über seinen »Erstling«, 1973, hatte Fühmann, schonungslos, selbstbezichtigend, begreifbar machen wollen, was mit dieser seiner Generation von 1922 geschehen war, 1933, 1939. »Ich war einer der Millionen primitiver, gläubiger Nazijungen, sieggläubig, führergläubig, zukunftsgläubig, vorsehungsgläubig, von keinem Zweifel geplagt und gehorsam der angekündigten Strahlenden Zeit entgegenmarschierend ...«

Nach erlebtem Krieg, langer Gefangenschaft und nun ersten Schreibversuchen machte es ihn »fassungslos«, Anfang der 50er Jahre »von sogenannten Kameradschaftstreffen ehemaliger Wehrmachtsangehöriger mit ihren Feldmarschällen« in Heftchen und Memoiren der BRD lesen und hören zu müssen. (So in seinem »Pamphlet. Die Literatur der Kesselrings« 1954) Von daher kam wohl der Titel seiner Novelle, den Max Schroeder »großartig« nannte. Sie endet mit dem Überfall auf die Sowjetunion, der hier mit einem fürchterlichen Verbrechen beginnt. Symbol eines vierjährigen Vernichtungs- und Ausrottungskrieges.

Des Erinnerns wert: Wie die Novelle Fühmanns erschien im Jahr 1955 Brechts »Kriegsfibel«, sonderbarerweise im Eulenspiegel Verlag Berlin! Nach vierjähriger Verzögerung, weil sie den Zensoren als »pazifistisch« galt. 69 Fotoepigramme, das sind dokumentarische Fotos mit je einem Vierzeiler. Erschütternde Bilder mit aufklärendem Dichterwort. Brecht war schon damals der Meinung: »diese Verdrängung aller Fakten und Wertungen über die Hitlerzeit und den Krieg ... muss aufhören«.

Man könnte, man sollte diese Brecht-Fibel neben die Fühmann-Novelle auf seinen Büchertisch legen: die Bilder anschauen, die Strophen bedenken und den Text noch einmal lesen. Vergangenheit unvergessen machen.

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