• 50 Jahre Mauerbau

Die Kompromissformel

Chruschtschow, Kennedy, Ulbricht und das Westberlin-Problem

  • Stefan Bollinger
  • Lesedauer: 4 Min.

Der sowjetische Verteidigungsministers Marschall Radion Malinowski wurde nach einer Kommandostabsübung mit der NVA im Mai 1961 dramatisch: »Unter den heutigen Bedingungen kann der kleinste Krieg in einen Weltkrieg umschlagen. Ein solcher Krieg würde wie nie zuvor eine zerstörende Wirkung haben.« Trotz aller Siegesgewissheit wusste er wie alle Beteiligten um das tödliche Risiko. Aber die DDR steckte in einer tiefen Krise.

DDR-Politiker und Militärs wie Heinz Kessler und Fritz Strelitz hoben jüngst hervor: »Ohne die Mauer hätte es Krieg gegeben«. Tatsächlich: Krieg war die ultima ratio der antikommunistischen Strategie der USA und ihrer Verbündeten seit Beginn der 1950er Jahre. Der »Kommunismus« sollte gewaltsam ausgeschaltet und der Osten »befreit« werden, obschon Präsident Dwight D. Eisenhower als alter Militär der Risiken bewusst war. Die bargen zudem barg das ungelöste Deutschland- und Berlin-Problem. Wenn für die Sowjetunion und die DDR das Berlin- bzw. richtiger das Westberlin-Problem so überragende Bedeutung hatte, dann war Veränderung nur konsequent. Fas Rütteln am Status der Stadt musste für die Westmächte als fait accompli wirken. Militärische Pläne wurden bereits vorbereitet, vom Vorstoß eines Bataillons nach Westberlin über Grenzscharmützel und breiter Offensive mit symbolischem oder gar massiven Kernwaffeneinsatz. Auch der Osten präparierte sich.

Bei dem gescheiterten Wiener Gipfel Chruschtschow-Kennedy Anfang Juni 1961 fielen harte Worte. Moskaus Standpunkt zu Westberlin war unmissverständlich: »Wir wollen diesen Splitter herausziehen, dieses Geschwür am Körper Europas beseitigen und dies so tun, dass keinem der interessierten Staaten ein Nachteil daraus entsteht.« Letztlich ging es um Macht. Kennedys Position, »wenn man uns aus Westberlin verdrängt, würden alle Garantien, die wir Westeuropa gegeben haben, ihr Gewicht verlieren, und die Völker würden aufhören, an unser Land zu glauben.« Aber er flocht die Kompromissformel ein, nach der der Streit ja nur um Westberlin gehe und andere Schritte des Ostens deren Angelegenheit wären. Kennedy unkte über »einen kalten Winter«. Trotzdem waren Pflöcke abgesteckt und für Moskau ein Ausweg aufgezeigt, der das Problem der DDR lösen könnte – eine Grenzschließung. Denn sonst drohte deren Krise mit einer unkalkulierbaren Eigendynamik. Unruhen, gewaltsame Grenzdurchbrüche, westdeutsche Alleingänge hinsichtlich Hilfeleistungen – offiziell oder inoffiziell. Es war hohe Zeit für eine Lösung und der Osten handelte.

Ein Krieg war vermieden worden. Aber wie stabil war die DDR? Wie konnte sie verhindern, dass keiner mehr vor dem Sozialismus weglaufen mochte? Ulbricht sagte im kleinen Kreis: »Um die Stimmung in der DDR zu verändern, muss man der Bevölkerung die wirtschaftliche Lage erklären und ihr eine ökonomische Perspektive aufzeigen, die sie gegenwärtig nicht hat.« Da gab es angesichts einer handfesten Wirtschaftskrise viel zu erklären. Noch blieb die Analyse an der Oberfläche. Mängel der Staatsorgane, überspitztes Vorgehen gegen Bauern und Handwerker wurden ausgemacht. Zu Ulbricht Leistungen gehörten indes grundlegende Einsichten jenseits der Symptombekämpfung. Darum versammelte er jüngere Wirtschaftspraktiker und Wissenschaftler um sich und startete eine umfassende Wirtschaftsreform, das Neue Ökonomische System mit einem grundsätzlich anderen Wirtschaften.

Politisch, wirtschaftlich, künstlerisch ließ ein Aufbruchsklima den Mauerbau fast vergessen. Aber diese Reform sollte nur eine halbe bleiben. Schon die Analyse der Fluchtgründe hatte eine seltsame Schieflage. Die Schuld des Westens war unbestritten, auch wirtschaftliche Ursachen konstatiert. Aber die politischen Beweggründe, die mangelnde Demokratie blieben unbeleuchtet. So wirtschaftlich innovativ es zugehen sollte, die Rolle der Partei und ihres engsten Führungszirkels durfte nicht angetastet werden. Es blieb beim stalinistischen System. Und das bis 1989. Die nun aufbegehrenden Bürger wollten einen demokratischeren Sozialismus, wirtschaftlichen Wandel, mehr Demokratie – und Reisefreiheiten. Aber die Reformen kamen zu spät, nicht Modell-, sondern Systemwechsel und kapitalistische Restauration standen auf der Tagesordnung.

Alles Geschichte, alles abzuhaken als Fehler eines Systems, das sich nur widerrechtlich den Namen Sozialismus angeeignete? Es geht um Probleme, die vor jedem sozialistischen Projekt stehen werden. Das Handeln in einer feindlichem Umwelt, in der es eine größere wirtschaftliche Attraktivität, höhere Löhne Fachleute locken, in der Medien und Abwerbung wirken. Es bleibt die Verantwortung eines Staates für die Funktionsfähigkeit seines Landes. Sind hier Eingriffe in vermeintlich ewige Menschenrechte möglich? Oder gilt das nur für westliche Demokratien, die an den Grenzen zu Mexiko oder den EU-Außengrenzen oder an der Grenze zu Palästina Sicherungssysteme errichten und durchsetzen. Es bleibt die Frage, wie Linke Politik betreiben, die Mehrheiten durch materiellen Wohlstand und vor allem demokratische Gestaltungsmöglichkeiten immer wieder neu gewinnen.

Vom Politikwissenschaftler und Mitglied der Historischen Kommission beim Parteivorstand der Partei DIE LINKE erschien ein ausführlicherer Text zum Thema in der Reihe der Rosa-Luxemburg-Stiftung »Standpunkte« (Heft 23/2011); www.rosalux.de

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