nd-aktuell.de / 15.08.2011 / Kultur / Seite 16

Das Kampffeld

Geschichtsdebatten, Erfahrungen und Klartexte

Hans-Dieter Schütt
Die Fußball-Bundesliga hat bereits ihr zweites Wochenende hinter sich. Im Vorfeld der Saison hatte Münchens Trainer Jupp Heynckes erklärt: »Klar wäre es angenehmer, Debatten intern zu klären, aber das geht beim FC Bayern nicht, bei uns fliegen auch mal die Fetzen. Öffentlichkeit lässt sich nicht zähmen.«

Schon huscht uns jenes äußerst groteske Fairplay-Netzforum durch den Sinn, mit dem tief besorgte Kanalisateure der Linkspartei vor Monaten einen Verhaltenskodex für die Mediengesellschaft zu basteln versuchten: Vorsicht vor gegnerischen Medien! Nur nach draußen gehen, wenn man grundsätzlich, ausführlich (also langweilig?) werden darf! Die Zeitungen, wenn man um Interviews gebeten wird, sofort in Programm-Plattformen verwandeln! Und, Achtung!: Lieber verstummen, als die eigenen Reihen mit laut ausgetragenen Kontroversen verstimmen!

Das Ganze ist noch nicht mal richtig vergangen und doch schon (fast) vergessen. Denn die klinisch reine, abgedichtete Parteimeinung könnte nur erzwingen, wer das Grundprinzip demokratischen Verbunds abschafft – die freie, frei flottierende Diskussion. Und auch einen abgestimmten Plan für Themen akzeptiert das Leben höchst ungern. Besagte Rede-Freiheit freilich, möge sie von tiefst gewolltem Sinn durchwoben sein, mischt sich ganz automatisch mit Eitelkeit, Selbstdarstellung, Naturell, unterschiedlichen Fähigkeiten für den richtigen Ausdruck; sie ist mit der sündigen Kurzweil liiert, sie setzt auch mal gern die Prominenz vor den Geist; sie ist, kurz gesagt, jenes Menschending, aus dem doch alle Parteien gemacht sind. Die Problemtiefe und die Palaverflachheit: siamesische Zwillinge.

Und also lässt sich, wie der Linkenparteitag in Mecklenburg-Vorpommern soeben offenbarte, auch das Mauerthema nicht einfach abschalten, nur weil der 13. August vorbei ist. Denn: Wenn es um Geschichte geht, geht es gar nicht um Geschichte. Jeder, der sich öffentlich in den Streit um ein zurückliegendes Ereignis einmischt, hat doch überhaupt nicht die sogenannte objektive, dialektische, viele Facetten umfassende Wahrheit im Visier, es ist vermutlich viel einfacher: Er arbeitet daran, noch in der Historisierung der Dinge seinen ureigenen Lebenssinn, die gewachsene Weltauffassung oder einen Klientelauftrag zu behaupten und zu pflegen – und damit, rückblickend, eine Gegenwartsposition kundzutun. Geschichte ist vorrangig ein Anlass zur Fortschreibung eigener Überzeugungen oder zu deren Korrektur.

Das besagte Bemühen um Aspektevielfalt und -gleichberechtigung bei der Einschätzung vergangener Geschehnisse – es ist Angelegenheit von Historikern, die zu Kälte und Distanz gewissermaßen verpflichtet sind. Zwischen lebendig wertenden Menschen aber gibt es, etwa über Ost-West-Geschichte, keinen Austausch ohne Emotion, ohne innere Beteiligung, und daher existieren und agieren oft länger als erwartet zwei polarisierende Seiten: den Tätern Nahestehende hier – und den Opfern Verpflichtete da.

Wer im Osten, wie es Gesine Lötzsch tat, die Ursache für den Mauerbau auf den Zweiten Weltkrieg zurückführt; wer bei einer Buchvorstellung zum Thema sorgfältig das Wort »Mauer« vermeidet und betont nur von Grenzsicherungsmaßnahmen spricht; wer, wie bei der Linkspartei in Schwerin, bei einer Ehrung für die Toten sitzen bleibt, während aufzustehen das Pietätsgebot wäre – wer sich so verhält, der nimmt nichts weiter in Anspruch als sein Recht auf besagte Meinungs- und Handlungsfreiheit, aber er muss sich natürlich Interpretation gefallen lassen und will die auch: Er antwortet ganz eindeutig auf eine gegnerische Seite. Er schlägt irgendwie zurück. Er macht den Eindruck, als fühle er sich umstellt von ideologischen Mustern und antwortet darauf (Selbstschutz? Versteinerung?) mit – ideologischen Mustern. Er nimmt Rücksichten nach hinten. Er lässt den offenbar lange nachwirkenden Schmerz einer unverwundenen Niederlage öffentlich spüren, ein Schmerz, der sich vor allem an einem speziellen Leid stets aufs Neue entzündet: Die Deutungshoheiten von Geschichte gingen seit dem Ende der DDR auf die Welt über, diese hässliche und offene, diese offen hässliche und hässlich offene Welt, eine rücksichtslose Welt, und freilich bleibt die so ungerecht, wie sie immer war. Gerechter aber ist sie auch geworden: Seit über zwanzig Jahren ist das Wort der Opfer hörbar. Wer bestimmt dessen Lautstärke? Die es einst erstickten? Bitte nicht.

Debatten um jüngere Geschichte sind wohl weiterhin in beträchtlichem Maße Front-Debatten, bleiben Kampffeld – ziemlich entfernt von einem illusorischen Besänftigungsfrieden, der zum Beispiel in Sachen 13. August in der grotesk anmutenden Pointe bestanden hätte, dass die FAZ gedenkend die Liste der erschossenen Grenzsoldaten veröffentlicht, das ND die Liste der erschossenen Flüchtlinge.

Jene Ostdeutsche, die im Vorfeld des 13. August prononciert den friedenssichernden Grund des Mauerbaus betonten, wollen vielleicht nicht wirklich zugeben, dass das mörderische Schandmal aus Beton die vorweggenommene Kapitulation ihres gelebten (geliebten?) Systems bedeutete. Weil sie die Delegitimierung der DDR als Verhöhnung des eigenen Lebens betrachten. Und die anderen, die Mörder!-Rufer, wollen vielleicht nicht wirklich akzeptieren, dass im Schatten der Mauer, ungeachtet ihrer eigenen Leiden am Regime, ein ungetrübtes, der DDR zugewandtes, farbiges Leben stattfand. Es gab die rettende Nische, die freie Assoziation von Werktätigen, es gab durch unüberwindliche Enge auch viel Konzentration. Und es gab bei vielen, noch in der Benennung der Verluste durch Grenze, Zensur, Partei, Stasi, einen Sinn für etwas Wesentliches, das ohne Westreisen auskam. Auch unter der SED ließ sich Leben nicht hemmen – und an die Mauer gewöhnte man sich, so, wie sich der Mensch an jedes Elend gewöhnt.

Solche Gewöhnung ist schlimm und normal. Aber das Normale ist nicht automatisch schlimm. Und wo man sich nicht gewöhnen wollte oder konnte, da versuchte man sich dennoch einzurichten, man zweiteilte aus Vorsicht seine Meinung und hatte nichts dagegen, ab und zu eine öffentliche Bekundung zum Staat abzugeben. Man kannte doch das Spiel – das allerdings für einige sehr blutiger Ernst wurde. Weil sie das Eingesperrtsein nicht akzeptierten!

In einer Broschüre des pädagogischen DDR-Verlages »Volk und Wissen« von 1958 ist zu lesen: »Dass Millionen Menschen im Staat Hitlers ihr normales Leben unberührt aufrecht hielten, reiht sie ein in die Schuldigen am faschistischen Verbrechen. Jedes Staatswesen zwingt zur persönlichen Entscheidung: Dafür oder dagegen!« Das kann man nur von sehr weit oben schreiben, wo man keine Berührung mehr hat mit den Menschen. Hinuntergestiegen ins konkrete einzelne Leben, wird man wohl etwas feinfühliger sein müssen hinsichtlich der Anpassungsnöte und -fähigkeiten einer Bevölkerung unter einer rigiden staatlichen (Partei-)Macht.

Immer bleibt dies das höchste Glück: durchzukommen, ohne Held sein zu müssen. Nachzulesen bei Brecht. Durchzukommen: durch die Zensur, durch Kontrollen jedweder Art, durch eine Grenze, durch die Existenz – die sich leider schwer damit tut, die leichten, unbeschwerten Dinge massenhaft zu verteilen. »Dafür oder dagegen« aber – das Beschwören einer solchen Staats-Alternative ist entsetzlich und meinte auch 1958 nicht vorrangig die Vergangenheit. In der Broschüre heißt es weiter: »Auf deutschem Boden entstand ein Staat, zu dem Millionen aufatmend Ja sagen können.« Oder müssen! Wer es so empfand, wurde listig oder müde oder irgendwann, lebensgefährdend mutig.

Leben und Geschichte. Erfahrung, die immer unverwechselbar ist – und historische Tendenz, die Abstraktion bedeutet. Das eine und das andere. Das eine im anderen. Das eine gegen das andere. Das ist das bleibende Spannungsfeld. Auf dem es offenbar nach wie vor schwer ist, den Mut zur Unumwundenheit aufzubringen: Die Mauer war Ausdruck der Bestandsunfähigkeit eines undemokratischen Systems. Unabhängig weltpolitischer Konstellationen damals, die doch nichts an eben genannter Grundwahrheit änderten. Und unabhängig der fiesen Wirtschafts- und Destabilisierungsattacken von seiten des Westens. Mein Gott, das weiß man alles, was änderte es denn an unserer so tragischen, verurteilenswerten Lage, das eigene Volk einmauern zu müssen, damit man jemanden hat, den man als Sieger der Geschichte präsentieren kann.

Die nächste Geschichts-Debatte wird kommen. Mitglieder der Linkspartei werden weiter ihre Meinung in unzähmbarer Öffentlichkeit verbreiten. Tiefgründig oder flach. Und das Fairplay-Forum wird Rote Karten verteilen? (Wie hintergründig: just rote Karten als Bestrafung!) Es wird vergeblich sein: Mit Selbsttoren ist nichts zu gewinnen. Das erzählt uns gewiss auch das kommende dritte Wochenende der Bundesliga.