Man achte auf jede Scherbe ...

Gewalt, Krisen, »molekulare Bürgerkriege« und ein forscher Zeitungston

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 7 Min.

Im Jahre 1968: die Revolte der Studenten. Diese waren, nach den emotionalen Überstürzen ihres Beginns, mehr und mehr von politischem Bewusstsein beauftragt: »Macht kaputt, was euch kaputt macht.« Ton Steine Scherben. Der Ton und die Steine: erhoben, um Scherben zu sehen – des Systems, nicht nur der Schaufenster. Rebellion gegen die Struktur. Man zerstörte auch Autos, Lust am Exzess, aber zuvörderst wollte man herrschende Politik zerstören. Lang vorbei. Die Revolutionäre auf Zeit wurden von der Demokratie eingefangen und für zähe Koalitionen mit der Realität aufgeweicht. Unterm Pflasterstein liegt nicht mehr das Meer, nur Sartres Grab.

Immer wieder ist Gewalt Vorbote oder wenigstens Hoffnungsstoff der Weltveränderung. Sie ist jenes Böse, das sich auch das Gutgemeinte gern antut, um dann möglichst gründlich seine Unschuld zu verlieren. Gewalt hat Gesellschaften aus dem Boden gestampft, und beim Stampfen schmatzten die Blutpfützen, dass den Furchtsamen, Fragenden, Zweifelnden, Scheuen die Lippen vor Stummheit nur so vertrockneten. Gewalt war in allen Zeiten das Angebot der Geschichte – für den glühenden Angriff der Hochzürnenden, die nun (immer auch aus einer Lust am Exzess, die mit vorschneller politischer Zuordnung nie erfasst werden kann) in die Welt fuhren »wie die Kugel in die Schlacht« (Heinrich Mann).

Soeben brannte es in Großbritannien. Gewalt. Es wird sich, in Masse, in Israel empört, in Spanien, in Portugal. Die britischen Ausfälle sind mit den anderen Aufwürfen des Zorns nicht direkt vergleichbar, indes: Was alle eint, ist die Zugehörigkeit zu einem modernen Internationalismus – dem der Verlierer, dieser unverstanden bleibenden Größe in den Machtpokern der verwahrlosenden Demokratie. Volk zu sein, das ist in zunehmendem Maße das Schicksal einer bloßen Existenz, für die man nichts bekommt. Vor allem wenig Arbeitslohn. Der Philosoph Peter Sloterdijk spricht vom Klassenkampf der »Überbelohnten« gegen die »normal oder schlechte Belohnten«, und der Sieg in diesem Kampf: leider das nie aus der Welt geschaffene »Menschenrecht auf steigendes Gierverhalten«.

Ein derartiger Zustand stimmt Betroffene nicht unbedingt friedlich. Um den gesellschaftlichen Frieden zu erhalten, erfährt das System, in der guten Tradition geschichtlicher Paradoxien, methodische Hilfe just aus dem Stalinismus, und diese Hilfe heißt: Ideologie der Selbstbereinigung. So wie der kritische Kommunist einst unbedingt einsehen sollte, warum er gedemütigt, diszipliniert, in die Selbstkasteiung getrieben, gar in den Archipel Gulag geschickt wird, so soll der moderne Horizontlose an den Rändern der Marktregimes möglichst wehrlos Einsicht zeigen: dass er in den zeitgenössischen Begehrensspielen um Überbelohnung quasi naturgesetzlich keinen Platz hat. Außer dem Platz des Zuschauers – vor großflächig installierten medialen Illusionsdepots, wo ihm der Lebenssinn eines vergeblichen Wartens nach allen Regeln der Betäubung versüßt wird.

Aber manchmal bebt es von den Rändern her. Die revoltischen Regungen in London waren Regungen sozial Isolierter, sprachlich Verarmter; ein abgestumpfter, lodernd vandalischer Gruß an die Welt. Ein Vor-Glimmen solcher Grußform liegt wohl schon in jeder zerbrochenen Bierflasche auf einer Straße, in jedem umgestoßenen Müllbehälter, in jedem Graffito an bürgerlicher Fassade.

Hans Magnus Enzensberger sprach vom »molekularen Bürgerkrieg« – darin Hass und Selbsthass und Lust am Exzess ein unberechenbares Amalgam bilden. In die explosive Mixtur gebracht vom Auftrag, alle zu verletzten: die wohlanständigen Wegseher, die redlichen Ich-Interessler, die Ohnmachtsbürger. Und stets schlägt der Arme auch den Armen, immer prügelt der Schwache den Schwachen. Das ist die Tragödie, mit der bessere Kreise ihren Ekel nach unten kultivieren dürfen.

In jeder demolierten Bushaltestelle sind sie inzwischen anzutreffen: Keime eines Radikalverhaltens, bei dem akuter Aufruhr und dauerndes Zündeln und Lust am Exzess ein Wechselspiel sind. Es ist dies, so Sloterdijk, »ein Extremismus der Müdigkeit und der bodenlosen Unlust« am Bestehenden. Der Kampf jenes Bewusstseins, für das 1968 zum erzählenswerten Gleichnis wurde, ist abgelöst worden vom Rumor der Besinnungslosen. Der Zerstörungsakt ist das Einzige, das man in eine Zukunft verlängert, die keine Änderung der Zustände schaffen wird, sondern nur eine neue, bessere Generation von Autos – Zulieferprodukte für die fortgesetzte Arbeit der Molotow-Cocktails ...

Die Gewalttäter Großbritanniens taten (wie vor Jahren Jugendliche in Paris, in einer Mischung aus Wut und Geilheit, hochgekifft, bis das Hoolo-Gen durchschlug) das Einzige, was blieb, um noch Lust zu empfinden: Sie kamen jenem Hass zuvor, der ihnen täglich als Desinteresse an ihrer Existenz entgegenschlägt. Sie kamen diesem Hass zuvor – indem sie Gründe schufen, um gehasst zu werden. Das bleibt ihre verlässliche Arbeit. Das ist triumphierende Überlegenheit mitten im Dreck der Verhältnisse. Ein Vorgang, der freilich gänzlich ungeeignet ist für Spekulationen über giftig heraufdämmernde Systemgefährdungen. Dazu ist das gesellschaftserhaltende Einverständnis zwischen dem Angstkonservatismus breiterer Schichten und dem neoliberalen Härteprinzip der Vermögens-Elite zu fest. Und dazu scheint auch die Grundkraft der westlichen Gesellschaft beruhigend elastisch zu sein; die universelle Verfeindung mit dem Kapitalismus ist kein weitgreifend politischer Impuls, solange viele Einzelne bereit bleiben, im Selbstbehauptungswillen des Systems doch auch einen Garanten ihrer eigenen Freiheit zu sehen. Und sehr viele haben noch allen Grund (und Selbstzähigkeit) zu dieser Bereitschaft. Im vollen Bewusstsein der Tatsache, dass Freiheit ein großes Relativum bleibt.

Politisch existieren keine orientierungsmächtige Szenarien, die den Unzufriedenen aller Couleur einen alternativ vitalen Platz im Geschehen zuweisen könnten. Rechts verwandelt sich Politik verstärkt in Polizei, links verwandelt sie sich in Agenturen des Arbeitsplatz- und Verbraucherschutzes. In diesem Sinne ist die deutsche Linkspartei ein Lückenspringer: Sie nimmt praktisch – indem sie zwar keine Arbeiterpartei, aber eine Arbeitspartei sein will – die einstige Sozialfriedensposition der sich inzwischen sonstwohin verirrten Sozialdemokratie ein. Die den Höhepunkt ihrer Karriere hatte, als sie den Geschäftsführern des konservativen Kapitalismus gehörige Zugeständnisse bei der Umverteilung des Reichtums und beim Ausbau sozialer Netze abrang. Was mehreren Generationen das bundesdeutsche Wohlleben bescherte. Deren Kinder, hineingestoßen in die Zeit neoliberaler Neuberechnung aller Kosten, sollen nun dafür büßen.

»Die Welt« schreibt, als Mahnung an die Jugend, von einer »verstaubten Wohlstandsillusion«; die vergangenen »66 Jahre in Frieden« seien auch »durch einen zunehmend großzügigeren Sozialstaat erkauft« worden. Was an solchen Kommentaren auffällt, ist der forsche Ton, gemacht ganz aus feingerippter Unternehmensdynamik. Es ist Wohlstandsklugheit, deren Kritik sich gewiss auch mal gegen ausufernde Gewinner richtet, nie aber gegen die Spielregeln. Und man ist natürlich nicht der Ansicht, dass man selber überbelohnt sei – man darf schließlich aus guten Gründen unberührt bleiben von größeren Gefahren eigener Einbußen.

Vokabular in solchen Kommentaren, etwa Plan, individuelle Zukunftsfähigkeit, Verantwortung, Eigeninitaitive, hoch vernünftiger Pragmatismus – es sind genau jene Bezeichnungen bürgerlicher Tugend, die der Neoliberalismus täglich eiserner zu Makulatur stampft. Der Täter besorgt sich seine Legimitation aus Leichenfledderei. Frank Schirrmacher spricht in der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung« vom »kompletten Drama der Selbstdesillusionierung des bürgerlichen Denkens«.

Menschen, die Städte mit feuriger Asozialität und ihrer Lust am Exzess bevölkern – sie sind ein Fall für Räumkommandos. Überhaupt ist beim Blick auf untere Etagen des Lebens gern, und immer im Auftrag der Gemeinschaft, von »Ordnung schaffen« die Rede. Als sei der Schluss von Mensch auf Müllabfuhr selbstverständlich. So entwickelt sich im öffentlichen Bild das Muster einer Kriminalität, daraus ein lädierter, zerfaserter Bürgersinn letzte Funken Ethos schlägt.

Als gebe es nicht auch eine Asozialität der Wohlstandssicherung, eine Verwahrlosung in Macht und Maßlosigkeit, bei der nicht minder Ordnung zu schaffen wäre.

Volker Braun: Die Utopie

Sie hat nichts Besseres zu tun als nichts
Beschäftigt mit Überleben, von der Hand in den Mund
Ein Gespenst aus der Zukunft arbeitslos
Singend in Soho! Gebettet auf Rosen! Ein Tagtraum
Vom aufrechten Gang an der Nabelschnur
Des Büchsenbiers. DER FORTSCHRITT WOHNT
IN DER KATASTROPHE. So ist doch Hoffnung
Für den Aussatz. Ein Tanz am Vormittagt
Mit der Volksseele, die Kaufhallen angesteckt
Die Verworfene, nichts hat sie zu tun als Besseres.

Zu diesem Gedicht schuf Karl-Georg Hirsch seinen Holzstich.
Aus »Neue Totentänze«. Holzstiche von K.-G. Hirsch zu Gedichten von sechs Lyrikern. 2002. Hrsg. von Herbert Kästnern. Insel-Bücherei Nr. 1233

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