Schicksale der Wendekinder

Verein »Sichten und Ansichten« gab 13 Lebensgeschichten als Broschüre heraus

»In meiner Kindheit und frühen Jugend dachte ich ausschließlich positiv über die DDR. Ich hatte alles, mir ging es gut«, erinnert sich Nadine Hiller, Callcenter-Agentin aus Michendorf. »Meine Generation profitierte von der DDR, da wir in materieller Sicherheit aufwachsen konnten«, meint Denny Fode aus Ferchesar, der in seinem Laden in Potsdam-Bornim Tierfutter und Angelausrüstungen verkauft. »Ich lebte damals in einer sozialistischen Blümchenwelt«, sagt der Krankenpfleger André Walter, der seine Kindheit in Neuseddin und Marzahn verbracht hat. »Wenn mich jemand fragte, was ich werden will, antwortete ich, dass ich den Staat beschützen möchte.«

Der Verein »Sichten und Ansichten« hat 13 Lebensgeschichten gesammelt von Menschen, die in den Jahren 1973 bis 1977 in Brandenburg geboren und dort aufgewachsen sind. Tino Erstling hat die Niederschriften mit Unterstützung der Landeszentrale für politische Bildung in einer bescheidenen Auflage von nur 500 Exemplaren als Broschüre herausgegeben. Die Fotos machte die Vereinsvorsitzende Simone Ahrend.

Die Porträtierten waren noch sehr jung, als die Mauer fiel. Die erste Liebe hat sie oft mehr interessiert. Viele sagen, über Politik sei daheim nicht geredet worden. »Meine Eltern hatten genug mit ihrer Bäckerei zu tun«, erklärt der selbstständige Veranstaltungstechniker Andy Wagner, der seine Jugend in Kriele verlebte. »Meine Kindheit war sehr schön und unbeschwert. Ich hatte alles, was ein Junge brauchte und musste mir um nichts Sorgen machen.« Das ist heute anders. Wagner geriet schon einmal durch die schlechte Zahlungsmoral eines Auftraggebers in Schwierigkeiten. Obwohl er vor Gericht Recht bekam, sah er nach zweieinhalb Jahren nur einen Teil des im zustehenden Geldes.

Die Pioniernachmittage sind zumeist in guter Erinnerung geblieben. Grit Oehmke, die aus der Gegend von Templin stammt und jetzt als Lehrerin in Bremen unterrichtet, gibt zu, einst etwas traurig gewesen zu sein, dass ihr das FDJ-Hemd wegen des Mauerfalls versagt geblieben sei: »Ich fand das blaue Hemd so schick.«

Probleme bleiben jedoch nicht ausgespart. So sagt rbb-Radiojournalistin Britta Streiter, die es von der Lausitz in die Prignitz verschlug, ihr Vater sei stellvertretender Schuldirektor und »ehrlicher Parteigenosse« gewesen, ihre Mutter Musiklehrerin und kirchlich geprägt. »Zu Weihnachten sang sie mit den Schulkindern christliche Lieder, wodurch sie sich immer wieder Ärger einhandelte. Mein Vater musste sich in Parteiversammlungen gelegentlich für sie rechtfertigen.« Kurz vor der Wende sei der Vater dann aus der SED ausgetreten. »Er war ein Idealist und fühlte sich vom System verraten. Mit Tränen in den Augen erklärte er uns seinen Entschluss.« Später habe sich herausgestellt, dass die Familie über den Hausmeister von der Stasi bespitzelt worden sei.

Kleidung und andere Dinge aus dem Westen hatten für die DDR-Kinder eine große Anziehungskraft. Man kannte das aus dem Fernsehen und freute sich, wenn Verwandte aus der Bundesrepublik Pakete schickten. »Meine Vorstellung vom Westen war damals eine zauberhafte«, bekennt Britta Streiter. Die SPD-Landtagsabgeordnete Klara Geywitz (Kindheit in Seeburg) gesteht: »Mein größter Traum war damals ein Pelikan-Füller. Außerdem träumte ich davon, dass mich irgendwann ein flotter junger Mann mit einem Westauto von der Schule abholt und die anderen Mädchen staunen.« Inzwischen wünschen sich die Wendekinder andere Dinge, darunter Gesundheit, Frieden, soziale Gerechtigkeit und mehr Zeit für die Familie. Kleinere materielle Wünsche konnten 1989 mit D-Mark erfüllt werden. Das Begrüßungsgeld wurde für Coca Cola und weiße Schokolade ausgegeben; oder für einen billigen Walkman, der schon nach einer Woche nicht mehr funktionierte. Es zeigte sich, dass nicht alles Gold war, was in den Schaufenstern glänzte. »Die Wurst und das Fleisch in der Theke sahen so schön rosa aus. Das dies mit der Beleuchtung zu tun hatte, wurde mir erst später klar«, erzählt Friseurin Lydia Bobe aus Wittenberge.

»Vom Westen war ich anfangs überwältigt«, weiß Britta Streiter noch. »Alles war so bunt und die Menschen so hilfsbereit und freundlich.« André Walter erlebte den Umbruch anders: »Mir war alles peinlich, denn die aus dem Westen erkannten uns Ossis schon an der Kleidung. Das war erniedrigend. Die Sache mit dem Begrüßungsgeld empfand ich als hässlichen Verrat. Wir wurden quasi für die Wende nachträglich bezahlt ... Mein kleiner Bruder sagte: ›Scheiß Westen‹.« Später bei der Bundeswehr in Kiel hatte es Walter nicht leicht. »Auf meinen Schuhen stand eines Tages ›udO‹, was soviel hieß wie ›unser dummer Ossi‹.«

Was machen die Kinder der Wende heute? Thomas Habisch zum Beispiel, ein Maler und Lackierer aus Lindow, ist gerade arbeitslos geworden. Die anderen haben eine Beschäftigung. Dirk Schindelhauer aus Rathenow wollte nicht mehr mäßig bezahlt als Gleisbauer schuften und macht den Job – viel besser entlohnt – inzwischen als Saisonarbeiter in der Schweiz. Die Trennung von der Frau und den Kindern gefällt ihm nicht. Nächstes Jahr will er die Familien nachholen in die Schweiz. Jürgen Baerwald aus Mödllich arbeitet als Lagermeister in Hamburg, campiert dort in einem Wohnwagen und pendelt am Wochenende nach Hause.

Die Schicksale sind alle interessant, manchmal bewegend, insgesamt typisch für diese Generation und im Einzelfall doch sehr individuell. Schön und passend sind die eindrucksvollen Porträtaufnahmen, die eine unglaubliche Nähe zu diesen Menschen herstellen.

Tino Erstling, Simone Ahrend: »Junge Brandenburger im Porträt. Wie die friedliche Revolution ihre Kinder entließ«, Edition Sichten und Ansichten, Friedrich-Engels-Straße 12 in 14473 Potsdam, 84 Seiten (brosch.), 5 Euro

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