Notizen aus Venedig

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.

Die Tauben vom Markusplatz sind weg! Erst wurde die Tauben-Geburtenkontrolle eingeführt und das Futter mit Antibabypillen kontaminiert, mittlerweile sucht man die Vogelfutterverkäufer vergeblich. Ein Sieg der Hygiene und des Zeitgeistes über den Schmutz, der zum Leben gehört, besonders hier in Venedig. Ein Meilenstein auf dem Weg zum Museum mit streng geregelten Öffnungszeiten und Hausordnung.

Doch die frivole Melancholie dieser Stadt bleibt, sie sitzt als Geruch in den Fundamenten. Es sind die paradoxen Mischungen, die dieser auf Treibsand gebauten Stadt immer noch Halt verleihen. Vielleicht ist es Venedigs Langsamkeit, die dieser Stadt ihre Poesie gibt? Da lebt etwas seinem Ende entgegen und nimmt sich Zeit dabei. Gibt es ein schöneres Sinnbild für gelingendes Leben? Dass etwas kein Ende hat und immer wie neu erscheint, das ist doch der tödliche Irrglaube unserer schnelllebigen Gegenwart.

Der Spaziergänger wird in Venedig immer in die Irre geleitet. Dazu dienen Wegweiser in Form von Pfeilen, die nach dem Prinzip funktionieren, dass hier ohnehin alle Wege zum Markusplatz und zur Rialto-Brücke führen. Selber schuld, wer sich seinen Weg nicht sucht, sondern Straßenschildern hinterherläuft.

Venedig ist schön inmitten seiner Beschimpfungen, in denen es einige zur Meisterschaft gebracht haben. In der Beschimpfung offenbart sich eine unaufkündbare Verbindung, die sich gegen alle Argumente, sei es die des Verstandes oder die des offenkundigen Augenscheins, behauptet. Der Kunstschriftsteller Karl Scheffler ist so ein Meister der innigen Venedig-Beschimpfung, der bereits vor dem Ersten Weltkrieg diese Stadt – »eine Sumpfblütenschönheit«, »ein Notgebilde«, ein »Freilichtmuseum voller Verkaufsplunder« – tief in sich aufgenommen hatte. Solcherart Hassliebe resultiert aus dem paradoxen Charakter Venedigs, eine Stadt des Westens und des Ostens gleichermaßen zu sein. Die Brücke, die sie über Jahrhunderte zwischen beiden bildete, war zugleich ein hochgerüsteter Brückenkopf.

Die Republik Venedig wurde ebenso von Vernunft und einer ausgeklügelten Demokratie regiert wie von einem grausamen Terrorapparat, der ein Heer von Spitzeln unterhielt. Denunziation galt als Bürgerpflicht. Die Reste der Löwenmäuler, jener anonymen Briefkästen, in die nachts die Anschuldigungen eingeworfen werden konnten, sieht man noch. Da wurde manch private Rechnung beglichen, jeder lebte in misstrauischer Furcht vor seinem Nachbarn. Das spürt man bis heute, auch das Zugleich von übergroßem Reichtum und übergroßer Armut, das sich auf Fotografien bis in die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts zeigt. Eine damals noch überfüllte Stadt, in der ganze Viertel in ihrem Dreck erstickten und Seuchen wie die Cholera allgegenwärtig waren, weil es kein Frischwasser gab!

Hinter den prächtig leuchtenden Fassaden der Paläste am Canal Grande beginnt schon das Labyrinth dunkler Gassen, in dem es droht und murrt, wie Scheffler befand: »Eine Stadt, in der die Inquisition herrschte und in der doch auch vier Monate lang Maskenfreiheit und Karneval war.« Die Maske: einziger Spielraum für die Bürger im Überwachungsstaat Venedig. Jeder Karneval konnte für jeden der letzte sein, vor Verfolgung schützten weder Reichtum noch politische Reputation. Daher auch diese latente Hysterie, die nachwirkt. Hier konnte man jahrhundertelang Dinge in einer Fülle und Pracht kaufen wie nirgends sonst auf der Welt, aber wenn das Schicksal einen bestimmt hatte, den Weg über die darum so benannte Seufzerbrücke in die Bleikammern zu gehen, oder nachts, in einen Sack eingenäht, in der Lagune ertränkt zu werden, dann war das die Stimme des Schicksals, das hier wie anderswo immer blind zugriff.

Die »Dirnenschönheit« von »Bella Venezia« hat etwas mit diesem inneren Mangel an Zutrauen zu den Bürgern zu tun. Traum und Terror trieben auch hier die prächtigsten Bauten in die Höhe, der wichtigste und nie versiegende Antrieb dieser ausgestellten Pracht war: Angst. Darum war es gut, dass erst Napoleon und dann die Amerikaner hier einfielen. Letztere haben niemals Angst vor Gespenstern, wie wir seit Oscar Wilde wissen, nicht einmal vor den tatsächlich existierenden der eigenen Vergangenheit. Und das erwies sich als heil-

sam. So etwas wie Mark Twain als hintersinnigen Vorboten der »Arglosen im Ausland« hatten die gegen Salär singenden Gondolieri noch nie erlebt: »Jetzt hör mal her, Roderigo Gonzales Michelangelo, ich bin ein Pilger, und ich bin ein Fremder, aber ich bin nicht gewillt, meine Gefühle von einem solchen Gejaule zerfleischen zu lassen. Wenn das nicht aufhört, muß einer von uns beiden ins Wasser.« Solch klare Ansagen war man hier nicht gewohnt, wo man mit unerfreulichen Wahrheiten (Preisen!) gewöhnlich erst herausrückt, wenn es kein Zurück mehr gibt.

Erfreuliches gibt es auch zu vermelden. Mancher geht hier nicht nur seiner Selbstmordgedanken verlustig, sondern verliebt sich obendrein. Da hat Tiziano Scarpa dann doch wenigstens einmal recht behalten. »Brot und Tulpen« verkörpert den Venedig-macht-Hoffnung-Film. Da ist Bruno Ganz ein bereits dreivierteltoter Kellner, der nach Venedig nur aus dem einen Grunde gekommen ist: um hier zu sterben. Darum hat er auch einen Strick unter seinem Bett versteckt. Als er dann zur Tat schreitet, ist es ausgerechnet eine auf einem Parkplatz von ihrer Familie vergessene italienische Ehefrau, die er als Untermieterin aufgenommen hat, die ihn zu neuem Leben verzaubert. Schön!

Und Bruno Ganz hat hier, seit er 1999 diesen Film drehte, auch eine eigene Wohnung. Erst wollte man ihm nur das ganze Haus verkaufen, aber dann bekam er doch die Zimmer im dritten Stock, wohin das Acqua Alta – das wiederkehrende Hochwasser – nicht kommt. Die Venezianer, meint Ganz (der eine italienische Mutter hat), seien eine »knallharte Sippe«. Doch das müssen sie wohl auch sein, sonst gäbe es sie längst nicht mehr.

Und einige Dinge, sagt Bruno Ganz, bleiben hier doch für die Zugezogenen wie ihn für immer unerreichbar, sie werden von den alteingesessenen Familien gehütet wie Schätze: »Die Hüttchen, die Badekabinen, auf dem Lido. Der Parkplatz an der Piazzale Roma – seit Generationen vererbt. Das Grab auf der Friedhofsinsel San Michele – seit Generationen vererbt. Und der Liegeplatz für das Boot. Das sind die vier Sachen, die bei den Venezianern immer in der Familie bleiben.«

(Schluss)

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