Die stillen Wunder

»Le Havre« von Aki Kaurismäki

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 4 Min.

Aki Kaurismäki ist der große Schweigsame des europäischen Kinos. Am liebsten würde er nur Stummfilme drehen wie »Juha« (1999), weil mit Worten mehr gelogen wird als mit Gesten und Blicken. Er bevorzugt Schwarz-Weiß-Filme, weil die Welt nur in Kaufhäusern und nicht hinter den Türen der Sozialwohnungen bunt ist.

»Le Havre« ist ein Flüchtlingsdrama und zugleich ein Kammerspiel der Hoffnung. Marcel Marx war früher einmal ein Autor, jetzt ist er Schuhputzer. André Wilms zeigt ihn als einen Menschen, der in sich ruht, der nicht hadert, sondern seinen Platz wie Diogenes in der Tonne eingenommen hat: als den ihm bestimmten. So einen würdevollen Schuhputzer gab es noch nie! Würdevoll ist das Gegenteil von dünkelhaft – Marcel Marx hat allen Ehrgeiz längst hinter sich. Er erscheint als der Inbegriff eines zufriedenen Menschen: Seinen Reichtum trägt er in sich, das weiß er sehr wohl. Wie viele Dinge sehe ich, die ich nicht brauche!

Doch dann kommt im Hafen ein Container an, in dem sich afrikanische Flüchtlinge versteckt halten. Der Container ist fehlgeleitet worden, die Menschen sind halb tot. Trotzdem werden sie von der Polizei wie Schwerverbrecher behandelt und ins Gefängnis gebracht. Nur der zwölfjährige Idrissa (präzise in seiner aufmerksamen Art, Menschen zu beobachten, nicht misstrauisch, aber auch nicht mehr kindlich-naiv: Blondin Miguel) kann davonlaufen. Marcel findet den Jungen in seinem Versteck und nimmt ihn zu sich mit nach Hause. Das alles geht in einer stillen Selbstverständlichkeit vor sich. Marcel ist ohnehin gerade allein zu Hause, denn seine Frau Arletty (wie immer in Kaurismäkis Filmen dabei: Kati Outinen) liegt im Krankenhaus. Es gibt keine Hoffnung für sie, aber das soll Marcel auf keinen Fall erfahren.

Nun beginnt die staatliche Verfolgungsmaschinerie in all ihrer absurden Unverhältnismäßigkeit, nach dem Jungen zu suchen. Marcel ist ein Stoiker, der sich in den wichtigen Dingen des Lebens nichts vormachen lässt: Ein Kind ist ein Kind, man muss es freundlich behandeln. Aber ein schwarzer Junge bleibt nicht lange verborgen in der kleinen Siedlung, in der Marcel lebt.

Wie zeigt man den Menschen inmitten einer hoffnungslosen Situation? Aki Kaurismäki schuf mit »Le Havre« ein Märchen für Erwachsene, das mit seiner verzaubernden Kraft auch da noch Hoffnung gibt, wo es nach den Maßgaben der Vernunft keine mehr gibt. Allein das frei spielende Übermaß an Fantasie zeigt, was möglich ist: im Guten wie im Bösen. Im Film ein Mittel der Magie zu sehen, das verbindet Kaurismäki mit einem seiner großen Vorgänger: Vittorio de Sica. Dieser drehte »Das Wunder von Mailand«, eine Legende über Menschen, die nie etwas Gutes im Leben erfahren haben und darum selber gemein und hässlich geworden sind. Doch man kann auch sie zu einem neuen Leben erwecken. Nicht, indem man ihnen Almosen schenkt und sie bemitleidet, sondern ihnen die eigenen Angelegenheiten übergibt. Der Mensch, der eine Aufgabe bekommt, die für andere Menschen wichtig ist, wird sich in den meisten Fällen sehr darum bemühen, nicht zu versagen.

Kaurismäki, der Finne, dessen Filme eine spröde Poesie atmen, ist für »Le Havre« nach Frankreich gegangen – und das nicht nur wegen des Rotweins, den er so liebt (zum Filmstart hat sein Lieblingsweingut sogar einen »Le Havre« kreiert), sondern auch wegen der Musik, die im Film eine wichtige Rolle spielt. Le Havre ist die Stadt des Blues, des Souls und Rock 'n' Rolls. Musik – wie zur Melodie gewordene stumme Schreie – gehört zu Kaurismäkis Art, Filme zu machen – von »Leben der Bohème«, »Wolken ziehen vorüber« bis zum »Mann ohne Vergangenheit«. Immer gibt es bei ihm eine Würde des Alltäglichen, ein Zeremoniell noch des kleinsten Interieurs. Jeder Farbtupfer ist sorgsam gesetzt.

Dieser Regisseur entwickelt eine durchaus franziskanisch zu nennende Liebe zu allen Dingen, besonders zu den an sich unansehnlichsten, den scheinbar wertlosesten, die andere übersehen. Marcel Marx verkörpert diese Art von gutem Menschen, der auf stille Weise für andere da ist, ohne viele Worte zu machen, ohne aus dem Helfen eine eigene Art von Ideologie zu machen. Er ist so reich (nicht äußerlich natürlich), dass er andere daran teilhaben lassen kann. Nicht ständig, denn er ist ein Patriarch und braucht viel Ruhe, und immer nach strengen Regeln, die er selbst bestimmt. Idrissa jedenfalls hat sofort Vertrauen zu diesem älteren Mann, der niemanden vormacht, jemand anderes zu sein, als der, der er ist.

Kein Märchen ohne wundersame Begebenheiten! Da ist der Kriminalkommissar Monet, von Jean-Pierre Darroussin auf hinreißende Art als ein am Staatsdienst Zweifelnder (an ihm Verzweifelnder!) gespielt. Er soll den Jungen finden und weiß natürlich längst sehr genau, bei wem er zu finden wäre. Aber er will ihn nicht finden. Hat er nicht sein Leben lang Kriminelle gejagt – und nun einen afrikanischen Jungen? Da macht er nicht länger mit. Das ist dann eines der Wunder, die Kaurismäki – aller Alltagserfahrung entgegen – in »Le Havre« geschehen lässt.

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