Der Schmerz So schön, So beliebig

Elfriede Jelineks »Winterreise« am Deutschen Theater

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.

Oh ja, mein Herz! Es muss immer weitergehn, es darf nicht stillstehn, obwohl es oft so müde ist. Mein Herz – Niemandem!, möchte man da mit Else Lasker-Schüler ausrufen und das entspricht dann wohl auch dem Weltgefühl von Elfriede Jelinek. »Fremd bin ich ein-gezogen, / Fremd zieh ich wieder aus.« heißt es in Wilhelm Müllers »Gute Nacht«, aus jenem »Winterreise«-Zyklus, den Franz Schubert vertonte und der für Elfriede Jelinek (der studierten Pianistin und Organistin) zur größten musikalischen Erschütterung ihres Lebens wurde. Ein Mann liebt eine Frau, einen kurzen Sommer lang, dann ist sie fort und er sucht sie verzweifelt-vergeblich. Es ist längst Winter geworden und er sucht immer noch.

Vor einigen Jahren hatte Michael Thalheimer am DT bereits die »Winterreise« zu dramatisieren versucht, es schneite und wehte, ein Tenor mit allzuviel Blech in der Stimme lag am Ende nackt, vom Leben gefällt wie ein morscher Baum in der kunstvoll hergerichteten Bühnenwüstenei. Und als Zuschauer war man wieder einmal darin bestätigt worden, dass Schuberts »Winterreise« jede Art von hinzugefügtem äußerem Ornament abträglich ist. Denn die Reise des Wanderers, seiner unstillbaren Sehnsucht hinterher – sie ist eine innerliche. Man darf sie nicht bebildern.

Elfriede Jelinek muss man darüber nicht belehren, ihr Leben mit der »Winterreise« – in ihr ! – tritt nach außen allein in der Form eines inneren Monologs. Er entspricht jenem Erwachen der Kindheit im Alter, das nun auch sie, nach Sport- und Bankenstücken aller Art, in sich spürt: als Unbehagen, als Angst, als Todesvision. Unter Angstattacken leidet sie bereits seit Jahrzehnten, verlässt darum ihr Haus kaum noch. Die Klaustrophobien der Natascha Kampusch, das Schicksal der eigenen Eltern, die längst gestorben sind, all das vermischt sich zu jenem »Winterreise«-Aroma, das sie gefangen hält. Das Vergangene ist nicht vergangen und die Gegenwart nicht gegenwärtig.

Darum geht es in der »Winterreise«. Der demenzkranke Vater, einst abgeschoben in eine psychiatrische Anstalt, bleibt eine Wunde, die inzwischen gewiss vernarbt ist, jedoch schief, wie es bei Heiner Müller heißt. Der Wanderer, der sich nicht von der Stelle rühren kann, reist durch die Zeit – und das Hier und Jetzt liegt ihm dabei immer am fernsten.

Die Bühne von Nikolaus Frinke: eine sommerliche Verblüffung. Ein üppiges Blumenfeld, eine selbstzufrieden daliegende Wiese in satter Farbenpracht. Eine Bank darin. Ein Überrumpelungseffekt gewiss, der die Diskrepanz zwischen Innen und Außen ausstellt. Der ärgste Frost wütet innen, wenn draußen ein Übermaß an Licht erstrahlt. Das ist die »Winterreise« auch: Protokoll einer Depression. Aber der Sommer-im-Winter-Effekt verbraucht sich schnell. Außen blüht alles, innen welkt es.

Da erwacht sofort der Zyniker im Zuschauer. Ganz so zielgerichtet wie Andreas Kriegenburg in seiner Regie darf man vielleicht doch nicht dem Herz der Finsternis, jenem unaussprechbaren Geheimnis, das unser Leben mehr bestimmt, als wir wissen, entgegen marschieren. Seiner ganz auf die Sprechkunst seiner fünf Schauspielerinnen (die das multiple Wanderer-Ich verkörpern) vertrauende Inszenierung vermittelt darum schnell den Eindruck von gediegener – ganz und gar geheimnisloser – Langeweile. Gefährlich scheint es nicht zuzugehen auf des Wanderers Reise. Gewiss, der Text der Jelinek ist eine Selbstbefragung – ein Selbstgericht! – angesichts der Texte von Wilhelm Müller und der vom Band eingespielten Schubert-Lieder. Diese machen auf nicht wenige Premierenbesucher anscheinend den größten Eindruck des drei Stunden langen (sehr langen!) Abends – in der Pause hört man immer wieder die Frage ratlos in ihren Programmheften Blätternder: wer singt das eigentlich? Ja, wer denn? Es klingt nach Fischer-Dieskau.

Elfriede Jelineks mäandrierende Sätze, unter deren ewigem Kreisen alles eindeutig Benennbare zu Staub zermahlen wird, verwickeln die »Winterreise« von Müller-Schubert zu einem Amalgam aus Weltinnigkeit und Ichzerfallenheit. Judith Hofmann, Annette Paulmann, Maria Schrader, Anita Vulesica und Susanne Wolf können dieses in Zeitschleifen gefangenen Spaltungsprodukt Ich, das sich jedem Spiel verweigert, sprechen. Das ist stellenweise eindrucksvoll.

Doch schließlich verläuft sich diese »Winterreise« zu einer Art von Edelkunstgewerbe. Sie hat nichts Schmerzliches, sondern bebildert den Schmerz bloß in Schönheit, statt ihn mitsamt Rissen und Brüchen auszudrücken. Diese Form von solidem Mittelmaß scheint angesichts von bitterernstem Text (den man an einigen redundanten Stellen hätte kürzen sollen) und den außergewöhnlichen, zu nuanciertem Ausdruck fähigen Darstellerinnen, denn doch zu wenig.

Das Versagen der Regie wird nach der Pause sichtbar, als Maria Schrader (die in »Die Kontrakte des Kaufmanns« am Thalia Theater in Hamburg bereits bewiesen hat, dass sie Jelinek sprechen kann) einem dreiviertelstündigen Monolog ausgesetzt wird, an dem sie, in dieser Form jedenfalls, nur scheitern kann. Der Wanderer verwandelt sich in Jelineks demenzkranken Vater und die anderen vier Wanderer-Damen stehen, ebenfalls in Altmännerkostümen dabei und schauen wie die Geier zu, wie die Schrader in ihr Unglück rennt, das nicht jenes ist, das Elfriede Jelinek im Sinn hatte. Zum Höhepunkt dieses peinlichen Tremolos wird dann eine Gitterbettszene, die in ihrer plumpen Abbildhaftigkeit den gesamten Regie-Ansatz einer inneren Reise ad absurdum führt.

Müller-Schuberts »Winterreise« könnte in Jelineks gewiss strapaziös-skeptischer Anverwandlung eine so noch nicht gekannte Innenwelt eröffnen – im DT zu sehen ist aber nur routiniertes Stadttheater. Am Ende schultert der Wanderer seinen Rucksack und geht wie ein Pauschaltourist ab – wir vermissen ihn nicht.

Nächste Vorstellung: 18. September

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