Mehr Rechtsstaat in Kolumbien?

Hollman Morris Rincón über die Lage kritischer Journalisten / Der 42-jährige kolumbianische Journalist wird am Sonntag den Menschenrechtspreis der Stadt Nürnberg in Empfang nehmen

  • Lesedauer: 3 Min.
Fragwürdig: Mehr Rechtsstaat in Kolumbien?

ND: Sie leben aufgrund von Morddrohungen derzeit mit ihrer Familie in Washington. Welche Bedeutung hat der Menschenrechtspreis der Stadt Nürnberg für Sie und Ihr Land?
Rincón: Das ist eine Botschaft an die Journalisten in Kolumbien, in ihrer Arbeit auch auf die Opfer der Gewalt zu achten. Mit dem Preis will man aus meiner Sicht diejenigen Journalisten unterstützen, die in allen Winkeln der Erde unterwegs sind, um auf humanitäre Dramen aufmerksam zu machen und die Opfer zu Wort kommen zu lassen. Zugleich ist der Preis aber auch ein Appell, die Erinnerungsarbeit und die solide Recherche zu fördern – um beides ist es in Kolumbien nicht zum Besten gestellt.

Wie beurteilen Sie denn die aktuelle Situation in Kolumbien nach einem Jahr unter Juan Manuel Santos?
Der erhielt international viel Beifall. Ich denke, dass die neue Regierung mit dem Landgesetz und dem Gesetz der Opfer die Initiative ergriffen und Hoffnung gesät hat. Noch wichtiger ist vielleicht der neue Umgangston, der weniger aggressiv und militant ist. Die politische Opposition wird nun mit Respekt behandelt, gleiches gilt für die Menschenrechtsverteidiger. Allerdings fehlen die konkreten Taten und damit meine ich die Wiederherstellung des guten Leumunds der Menschenrechtsorganisationen, der Journalisten und Anwälte, die unter Álvaro Uribe Vélez als Feinde der Demokratie beschimpft wurden. Sie wurden systematisch stigmatisiert und delegitimiert und das ist in Kolumbien gleichbedeutend mit einer Todesdrohung. Auch die Medienkommission der Organisation Amerikanischer Staaten hat an die kolumbianische Regierung appelliert, den guten Ruf dieser Organisationen und Journalisten wieder herzustellen. Das ist bisher nicht geschehen. Für die Glaubwürdigkeit dieser Organisationen ist das aber durchaus wichtig.

Gibt es denn Signale, dass eine derartige offizielle Entschuldigung aus dem Präsidentenpalast kommen könnte?
Es hat in den ersten Monaten der Regierung derartige Signale gegeben, derzeit aber nicht. Grundsätzlich denke ich, dass der Präsident der Demokratie in Kolumbien einen Dienst erweisen könnte, wenn er sich dazu durchringen würde.

Glauben Sie, dass diese Regierung den Willen aufbringt, um die politischen Strukturen der letzten acht Jahre zu ändern?
Was ich registriere sind erhebliche Widersprüche im politischen Diskurs der Regierung. So hat Präsident Santos beim Regierungsantritt angekündigt, dass er die Justiz in Kolumbien respektieren werde. Im Mai hat er jedoch ein Urteil der Gerichte gegen den General Jesús Armando Arias Cabrales wegen Menschenrechtsverbrechen im Kontext der Erstürmung des Justizpalastes 1985 kritisiert.

Wie steht es um die Qualität der Presse in Kolumbien. Ist guter Journalismus dort noch möglich?
Mir gefällt, was die investigative Abteilung der Wochenzeitung »Semana« recherchiert, ich bin auch froh, dass die Tageszeitung »El Espectador« die Wikileaks-Depeschen erhalten hat und sie auswertet und publiziert. Es gibt nach wie vor gute Medien in Kolumbien, aber es müsste mehr und vor allem vielfältigere Medien geben. Kolumbien ist das Land mit den meisten Binnenflüchtlingen weltweit, aber es gibt mit »El Tiempo« nur eine einzige überregionale Tageszeitung, zwei große Fernsehkanäle und zwei Radionetze. Das ist nicht sonderlich gesund für eine Demokratie. Aus meiner Sicht ist Kolumbien ein krankes Land, welches dringend medizinischer Hilfe bedarf.

Fragen: Knut Henkel

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