Der Junge kommt nie wieder

Freddy Quinn 80

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 3 Min.

Unsere Sehnsucht ist eine Steigerungsform des Wollens, die weiß: Sie wird scheitern, morgen so, wie sie schon gestern scheiterte. Wir erfahren täglich: Wir sind auch heute hinter uns zurückgeblieben. Seltsam, dem Narkotikum Sehnsucht tut das jedoch keinen Abbruch. Sehnsucht wiederholt sich mit äußerstem Behagen, als gebe es keinerlei sie widerlegende Erfahrung. Sehnsucht bleibt das Denken, mit dem wir andauernd die Realität fliehen, auch wenn diese uns stetig wieder einholt. Keine Sehnsucht ist zu Ende zu bringen, ihre Kraft besteht in ihrem Spielcharakter – wir benötigen sie, wie es der Dichter Wilhelm Genazino schreibt, zur »Unterhaltung unseres Begehrens«.

Es gibt eine Unerschütterlichkeit des Sehnens, die im Schlager ihr geniales Medium fand. Der Schlager lässt das Deformierte, pressend Geordnete der Realität abtropfen wie keine Kunstform sonst. Kitsch? Er ist das Paradiesische schlechthin, bei dem farbige Träume von Harmonie, schöne Schmerzen eines großen Kummers und die Rauschbilder einer heilbaren Welt zu jener künstlichen Dreieinigkeit verschmelzen, die das Wirkliche wunderbar wünschend überschreitet.

Manfred Franz Eugen Helmuth Nidl aus dem niederösterreichischen Niederfladnitz ist einer der Großen des Gewerbes: Freddy Quinn (Foto: dpa), 1931 geboren als uneheliches Kind einer Österreicherin und eines irischen Kaufmanns. Fluchten nach Amerika, zum Zirkus, in die Fremdenlegion, in die musikalische US-Truppenbetreuung; mehr Gerüchte als Gewissheiten. Gewiss ist nur eines: Zur See gefahren ist er nie, die See aber schuf ihn, und dass biografische Einzelheiten einer Karriere lang verschwommen blieben, belegt den klar kalkulierten Opfergang des tatsächlichen Lebenslaufs in die tätige Legende.

»Junge komm bald wieder«, »Die Gitarre und das Meer«, »Heimweh«, »Unter fremden Sternen« – Freddy Quinn war der Bote des Horizonts, den nur das schnulzige Matrosenlied aufmachen kann. Über die Jahre seiner Erfolge ist er oft Schmähgegenstand der Intellektuellen und medialen Gesinnungskontrolleure gewesen, wie eifrig etwa hat man sich abgearbeitet am »brennend heißen Wüstensand«, jener Melancholiehymne des müden Legionärs, und menschenfreundlich konnte es doch nicht sein, wie man da vor Madagaskar lag und die Pest an Bord hatte und täglich einer über Bord ging. Eifer der politkritischen Korrektheit. Als habe man vergessen, dass Kinder, wenn sie »Räuber und Gendarm« spielen, unbedingt Räuber sein wollen. Das Räudige lockt, nicht das, was früh einen Vorgeschmack aufs Pflichtsoll der eigenen Lebensstrecke gibt. Die erfüllte Sehnsucht des Schlagers liegt in der kurzen, meist dreistrophigen Illusion, im Unbehausten beheimatet sein zu dürfen. Singend zur See fahren, es verheißt: so weit draußen zu sein, dass die Welt verschwindet.

2004 legte Quinn das Mikrofon beiseite: Der Junge kommt nie wieder! Heute wird der Mann mit der Lederjacke 80 Jahre alt.

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