nd-aktuell.de / 11.10.2011 / Kultur / Seite 31

Vom Wutbürger zum Mutbürger?

DIE NEUE PROTESTKULTUR

André Brie

Die Massenproteste gegen die Atompolitik der Bundesregierung, gegen Castortransporte und vor allem gegen »Stuttgart 21«, die maßgeblich zum regierungspolitischen Umbruch in Baden-Württemberg beitrugen, haben der schon seit den 90er Jahren geführten, zwischenzeitlich abgeflauten, Diskussion über die Krise der parlamentarischen Demokratie und der Politik eine neue Richtung und Intensität gegeben. Hier gilt es, gleich drei Neuerscheinungen zum Thema Bürgerproteste und Bürgermacht zu besprechen. Ob es sich dabei – wie in anderen Fällen – um eine kurzzeitige Mode handelt oder um einen tatsächlichen gesellschaftlichen und kulturell-politischen Wandel mit nachhaltigem Charakter, kann nur die Zukunft, nein: können nur die Bürgerinnen und Bürger selbst zeigen. Der kürzliche Wahlerfolg der Piraten-Partei in Berlin mag sich als Eintagsfliege herausstellen. Seine kulturellen, sozialen und politischen Wurzeln jedoch scheinen prinzipieller und von allen anderen Parteien bislang ignorierter Natur zu sein.

Roland Roth, Professor an der Hochschule Magdeburg-Stendal, hat eine Streitschrift für mehr Partizipation geschrieben. Sie ist empirisch und wissenschaftlich fundiert, auf realistischste Weise radikal. Es ist zu wünschen, dass deren Substanz Eingang fände in die Politik aller demokratischen Parteien, vor allem aber in eine zeitgemäße linke Programmatik und Politik. Die fiktiven, dem Buch vorangestellten »neuen Leitlinien der Bundesregierung« zum Aufbruch in die Bürgerdemokratie könnten dafür eine Grundlage sein – vorausgesetzt, dass man sich auf die weitreichenden, herausfordernden politischen, strukturellen und kulturellen Konsequenzen auch praktisch einließe.

Dem vom Autor gewünschten und gesellschaftlich erforderlichen Streit könnten drei Momente entgegenstehen: Zum einen mutet Roth sich und den Leserinnen und Lesern auch alle Gegenargumente und Tatsachen für seine Grundthese zu: »Es gibt ein wachsendes demokratisches Beteiligungspotential und vielfältige Suchbewegungen, um dies praktisch werden zu lassen.« Doch in eben dieser sorgfältigen Abwägung überzeugt er. Zum anderen erspart er weder seinen möglichen Kritikerinnen und Kritikern noch jenen, die aus diesem Buch große Zuversicht für die Möglichkeit einer »anderen Welt«, einer »anderen Gesellschaft« schöpfen können, jeden Verzicht auf einfache Lösungen und Orthodoxie. Schließlich, darauf verweist Roth selbst, muss man Zweifel daran haben, ob diese vermarktete, von Medienprofis inszenierte und von täglichen Moden getriebene Gesellschaft überhaupt noch kommunikationsfähig ist.

Roth bezieht sich zwar sogar auf Lenins Revolutionstheorie, wenn er meint, dass wir uns in »vorrevolutionären Zeiten« bewegen, in denen »die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen«, aber seine Schlussfolgerung ist eindeutig: »Es geht nicht um die Wiederkehr kommunistischer Gesellschaftsutopien oder um die Suche nach der ganz anderen Gesellschaft. Eingeklagt wird vielmehr, bescheiden und unbescheiden zugleich, das demokratische ›Erstgeburtsrecht‹, das eigene Geschick mitzubestimmen.« Doch das ganze Buch läuft auf nicht mehr und nicht weniger als auf die Vergesellschaftung der Politik, Demokratie und der politischen und ökonomischen Macht hinaus, in ganz anderer Weise als durch die gehabte und so gründlich gescheiterte Verstaatlichung oder die »Enteignung der Enteigner«, aber letztlich radikaler, nachhaltiger und realistisch auf Vergesellschaftung durch Demokratisierung, durch vielfältige und zusammenführende Bürgerinnen- und Bürgermacht.

Roth konstatiert nüchtern, dass viele und vor allem die neuen sozialen Bewegungen »zur Selbstbegrenzung, zum bewusst bescheidenen Anspruch« tendieren. »In ihrer Summe aber übersteigen die Veränderungsansprüche der zeitgenössischen sozialen Bewegungen bei weitem den Alternativanspruch der mit dem Sozialismus des Ostblocks einmal verbunden war.« Es ist daher alles andere als zufällig, dass der Autor auch den aktuellen und dramatischen Mangel sozialer und bildungspolitischer, kommunaler und wirtschafts- bzw. finanzpolitischer Voraussetzungen in der Bundesrepublik für eine umfassende Bürgerinnen- und Bürgerbeteiligung sorgfältig, engagiert und kritisch analysiert. Und ebenso auf die Gefahr einer kontraproduktiven gesellschaftlichen Spaltung oder eines antidemokratischen Rechtspopulismus hinweist, wenn die neuen Möglichkeiten lediglich durch Elitebewegungen getragen werden, während immer größere soziale Gruppen durch Hartz-IV und prekäre Beschäftigungsverhältnisse oder gravierende soziale Bildungsnachteile ausgeschlossen bleiben. Die fesselnde Darstellung und Analyse praktischer Erfahrungen in Lateinamerika und Europa, auch in Deutschland, mit Beteiligungsprojekten in Kommunen, insbesondere mit Kindern, Schülerinnen und Schülern weisen jedoch einen meiner Meinung nach realistischen Ausweg – vorausgesetzt sie werden aus ihrem Nischendasein gerissen.

Eine sehr gute Ergänzung bietet das Buch der drei Gewerkschafter René Rudolf, Ringo Bischoff und Eric Leiderer. Die Einschätzungen und Schlussfolgerungen sind ähnliche wie bei Roth, aber nicht in diesem Maße analytisch und gesellschaftspolitisch fundiert und formuliert. Die Stärke dieses Buches sind die Erfahrungsberichte aus unterschiedlichen praktischen sozialen und politischen Bewegungen der jüngeren Zeit.

Christoph Giesa schließlich verzichtet erklärtermaßen ganz auf den wissenschaftlichen und analytischen Anspruch. Er schreibt anschaulich und anregend aus eigener Erfahrung, er beschreibt die Erscheinungen der politischen und Institutionenkrise. Und er kommt, wie die anderen Autoren, zu Forderungen nach unterschiedlichen direkten Demokratieformen als Ergänzung der parlamentarischen Demokratie. Da er jedoch die defizitären sozialen und wirtschaftspolitischen Bedingungen und Voraussetzungen von Freiheit und demokratischer Partizipation ausklammert, bleiben seine politischen Konsequenzen halbiert und primär auf institutionelle Veränderungen beschränkt und die von Roth unmissverständlich analysierten Gefahren einer elitären und exklusiven Bürgerdemokratie sogar völlig ausgeblendet.

Dort, wo Giesa über den deutschen Tellerrand hinaussieht, beispielsweise zur ihm vertraute Landlosenbewegung in Brasilien und die in Porto Alegre entstandene Idee des Bürgerhaushaltes, stößt aber auch er zwangsläufig auf die soziale Seite demokratischen Wandels. Auch dieses Buch zu lesen, lohnt sich allemal.

Roland Roth: Bürgermacht. Eine Streitschrift. Edition Körberstiftung. 250 S., br., 16 €

René Rudolf/Ringo Bischoff/ Eric Leiderer (Hg.): Protest – Bewegung – Umbruch. Von der Stellvertreter- zur Beteiligungsdemokratie. VSA Verlag. 184 S., br., 12,80 €

Christoph Giesa: Bürger. Macht. Politik. Campus. 225 S., geb., 17,99 €