Regen, Schnee, Wind, Licht

»Die vier Himmelsrichtungen« von Roland Schimmelpfennig am Deutschen Theater Berlin

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Bühne ist mit brauner Erde bedeckt. Regnen wird’s, schneien. Vorn ein Podest, sieht von fern aus wie der riesige Stumpf eines abgesägten Baumes. Zur Sache reden, das heißt hier: zur Rampe gehen. Und es gehen Ereignisse zur Rampe: Ulrich Matthes, Andreas Döhler, Almut Zilcher, Kathleen Morgeneyer.

Döhler ist der Lkw-Fahrer, der 400 Kartons Knetluftballons in den Straßengraben setzt und einfach weggeht: Ändere dein Leben, lass alle Steuer los, die dich an den Straßenlauf pressen! Matthes ist der Mann, der die Kartons findet: Gründe deine Existenz auf Spiel, auf Leichtigkeit und Luftiges; wer mit Spaß handelt, wird vielleicht weniger schuldig! Morgeneyer ist eine junge Kellnerin, ihr Körper eine Arena: Wer ist schneller: der Tumor oder eine letzte Kraft zur Liebe? Almut Zilcher ist eine Wahrheitsraunerin: Es wird jemand sterben heute!

Roland Schimmelpfennig hat sein eigenes Stück »Die vier Himmelsrichtungen« am Deutschen Theater Berlin inszeniert, Bühne: Johannes Schütz. Vier Menschen, geraten im wahren Sinn des Wortes aneinander, so, wie sich Regen aus dem Norden mit dem Licht aus dem Süden, Schnee aus dem Osten mit dem Wind des Westens mischt. Liebe und Tod, lustige Luftballons und eine Revolverkugel. Ein Nasenbein knackt, ein Herz bricht, ein Schnapsladen wird überfallen, einer stirbt vor Schreck, ein anderer durch die Revolverkugel. Dabei sah am Anfang alles nur nach Anfang aus, nach fortwährendem, ungefährlichem Anfang.

Schimmelpfennig schrieb hier Erzähltheater, dem Kommentar näher als dem Drama, dem Bericht verwandter als dem Geschehen selbst. Das Stück reflektiert sich ins Mythische hinein, spielt mit Anklängen an Perseus und Medusa, eine Liebe also mit Kopfabschlagen - ach ja, sagt die junge Frau, nicht schlimm, der Kopf tue ihr sowieso immer weh: der Tumor. Man mag zwischendurch in bedauerndes Nachsinnen verfallen, warum das deutsche Gegenwartsstück so abstrahierend wurde, warum Typisierungen (ein Mann, eine junge Frau, ein kräftiger Mann, eine Frau) die klassische dramatische Gestalt so auffällig ablösen und damit den Kopfgeburtenanstieg in den Spielplänen befördern - aber am Ende hat es Schimmelpfennig geschafft, dem Betrachter ein so leises wie inständiges Erschrecken einzupflanzen.

Erschrecken, das einem wiederkehrenden Hauptsatz des Stückes entsteigt, jenem Schmerzhaften, das hier jede beteiligte Seele erkennt, nämlich: »dass die Zeit vorbei ist«. Hier spielen vier Menschen, dass Aufbrüche doch nur immer das Unentrinnbare bestätigen; und dass keine noch so freie Tat die Erlösung vom Schicksal bedeutet; und dass im Beiläufigen, mit dem sich einige Zufälle berühren, das böse kalte Herz der Katastrophe lauert. Achte nichts gering, Lebender, es ist in jeder Sache, die sich dir auftut, ein Ende eingeläutet! Metaphysik des Alltagslebens.

Andreas Döhler ist der poltrig heisere Kraftfahrer und Kraftkerl. einer ganz aus Roh-Stoff, ein heiteres plebejisches Unhirn, das sich grinsend, tapsig seine Schneise durchs Leben schlägt. Kathleen Morgeneyer vermag ganze Schichten von Hauch zu spielen, ihre körpertotale Schmächtigkeit kann sich doch mit Zentnern Schermut füllen. Ulrich Matthes, der Luftballon-Kinderträumer, der ein Sternenkostüm trägt und sich ein dämonisches Weiß und eine blaue Zunge anschminkt, ist der großäugige verdutzte Clown, der etwas Heiliges hat, also von Beginn an, in dieser Menschenwelt: etwas Todesverurteiltes. Und die Zilcher kratzt mit ihrer Stimme an den Metallplatten des Alls, und Kälte und Wärme einigen sich daraufhin, ununterscheidbar zu sein.

Das Stück ist klein. Lebensrecht für kleine Stücke! Dieses hier ist gebaut, als spüre man den Schlagtakt einer Schienenfahrt. Immer Bewegung, steter Wechsel, und doch droht Schläfrigkeit. Aber auch: plötzlich irgend eine Weiche, und du bist wieder voll da. Sätze stehen einzeln, verlieren sich, verwirren, kommen im Mund eines anderen variiert zurück; über der Szene ein Nebel, aus dem sich langsam der Zusammenhang schält, in den alle verwickelt sind. Sprache puzzelt sich mählich zum Bild der Wahrheit, die ein zögerliches Wesen ist mit Vorliebe für falsche Fährten. Schimmelpfennig sammelte Bruchstücke zusammen - für sein Stück vom Zusammenbruch, und was da zusammenbricht, ist die Illusion vom gelingenden Leben. Für den Lauf der Dinge, der uns drängt und drückt, der uns foppt und foltert, sind falscher Ort und falsche Zeit die wichtigsten Gesetzgeber. Denn just immer in der Nähe des Unglücks macht sich ein Glücksversuch auf den Weg, und die hohe Erwartung an Liebe, Sinn und Trost - sie steigt doch meist nur auf, um am Ende niederzustürzen auf traurigst wüsten Landeplätzen.

Über die Bühnenbreite ist ein Drahtseil gespannt. Wer über sich greift und das Seil in Schwingung versetzt, hört ein hartes Sirren. So singen Seiten - bevor sie reißen. Als wolle die letzte Kraft noch einmal: Schönheit. Der Tod ist ein Zyniker, ein Spieler. Das lernt er vom Leben.

Nächste Vorstellung: 3. November

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