Lebenszeichen

Drei Geschichten von Joachim Seyppel

  • Lesedauer: 8 Min.
Kürzel
Von allen Meeren, die ich kenne, von allen Wassern, die ich liebe, steht mir der Teupitzsee am nächsten. Krabben an Biloxi schmecken immer ein wenig wie Krebse bei Tornows Idyll. Die bunten Wipfel der Ägäis wehten so schwermütig wie die an der Liebesinsel. Den Scharmützelsee roch ich trotz des Fischtrans von Monterey. Badete ich in Meknes oder am Fort de l‘eau, schienen Araberjungen selten brauner als Freunde in Geltow, und die Störche von Algier erkannte ich wieder im Spreewald.

*

Zu oft gewisse Personen beleidigt, kränkbar schöne Frauen, zu viele Mädchen betrogen, die allerunschuldigsten Irrtümer zu spät eingesehen, nie eine grade Linie verfolgt, geschwankt, gezögert, umgefallen, zu spät begriffen: Mit welchem Recht, o Fremder, sitzt Du an diesem See, vor Dir nackte fröhliche Kinder, Teenager, Mädchen und Frauen!

*

Noch viel zu besingen, blaue Emailleschilder oder rote Schilder der Feuerversicherung der Provinz Brandenburg, Gaslaternen, Gassen, Wirtschaften, dralle Mädchen, die Spree bei Fürstenwalde im Regen im schwarzen Kahn: Metamorphosen in kleinen Städten der Mark, und vor allem Gurken aus Lübbenau in Marmeladeneimern unserer unendlichen Geduld.

*

Dreißig Grad Hitze, querfeldein mit zwei Koffern, Schreibmaschine, Regenmantel und Regenschirm, und eine dicke Frau mit Eierkorb ruft: »Na, denn loofen Se mal querfeldein, bis Se da sind!«



Dichterlesung
Einstmals, lang ist‘s her, hatte er darauf gewartet, endlich von einem der letzten Buchhändler zu einer Lesung eingeladen zu werden. Einige Wochen später lag im Hausbriefkasten ein Brief von keinem Buchhändler, sondern von einem Verein für Geschichte, dessen Leiter ihn einlud, Ende des Monats zu einer Lesung zu kommen. Er legte sich einige Kapitel zurecht, fuhr mit der Bahn zu dem Ort des Vereins, erschien dort pünktlich, doch der Saal war leer, abgesehen vom Leiter, zwei Studenten im ersten Semester und einem literaturbeflissenen älteren Fräulein aus der Nachbarschaft. Das Honorar sogar einschließlich des Fahrgelds, das stimmte, aber er schwor sich, »nie und nimmer Dichterlesungen«.

Das war nun über ein Jahrzehnt her, und seit seinem ersten Buch konnte er noch immer - das waren Zeiten - von Honoraren für Hörspiele und »Features« im Rundfunk leben, für Essays in Zeitschriften, von Gutachten zu Manuskripten für seinen zwar renommierten, nicht übermäßig bekannten Verlag und Texten in so genannten überregionalen Zeitungen. In den Schriftstellerverband aufgenommen zu werden, das war nicht nötig, denn der hatte sich selbst aufgelöst. Und Entsprechend der Satzung des Internationalen PEN war es unmöglich, einen Schriftsteller »ohne ein literarisch beachtliches Werk« aufzunehmen - was aber war heutzutage ein wirklich »beachtliches Werk?« Dazu gab es aber alle möglichen und unmöglichen Theorien, aber nur wenige Beispiele. Seine Wahl wäre gefallen auf »Robinson Crusoe«, »Don Quichotte«, den »Struwwelpeter« und »Max und Moritz«.

Nun aber brauchte er, ohne festes Einkommen, doch gewisse Mittel oder eben Honorare, um seinen nächsten Roman abschließen zu können. Und er erinnerte sich des Buchhändlers, bei dem er sich damals seine Schulbücher besorgt hatte, und der inzwischen wohl dreihundert Lesungen veranstaltet hatte, darunter mit zwei Nobelpreisträgern. Dieser Buchhändler lud ihn ein, Ende des Monats in seiner Buchhandlung aus seinem neuen Buch zu lesen.

Um viertel neun sollte die Lesung beginnen, er überquerte den Fahrdamm der Hauptstraße und betrachtete die ausgestellten Bücher - zwischen zwei »Ladenhütern« sein neues Buch. Zwei Jahre Arbeit, dachte er, dann Annahme des Manuskripts durch einen Verleger, letztes »Feilen« zusammen mit der Lektorin bis Sommerende, Prüfen der »Fahnen«, Druck von drei- bis fünftausend Exemplaren, Buchmesse im Herbst und schließlich die erste und hoffentlich nicht die letzte Lesung?

Der Inhaber der Buchhandlung empfing ihn, den Autor, freundlich, zahlte ihm das Honorar, blickte auf die Uhr und meinte: »Lieber Herr Kollege, werden Sie, um Himmels willen, niemals Buchhändler! Denn die Sache, die ist die: Der Verleger schadet dem Dichter, weil er ihm falsche Honorarabrechnungen vorlegt, der Buchhändler schadet dem Verleger, weil er ihm angeblich unverkäufliche Bücher als Remittenden zurückschickt, und dem Buchhändler schaden manipulierte Bestsellerlisten.«

Die Buchhandlung wurde, des freien Eintritts wegen, mehr als voll, der Inhaber begrüßte den Gast mit wenigen, doch herzlichen Worten, erwähnte wie nebenbei die durchaus »akzeptablen« Rezensionen und überließ dem Gast das Wort.

Er werde nun, sagte der Autor, einen kurzen »Text« aus seinem neuen Buch lesen, und er begann: »Nackter Fels mit Höhlen, altes Moos, der Puls des Wanderers schlägt hart, der Wanderer zwischen Himmel und Erde schreibt ein Buch der Abenteuer, von Liebe und Jugend, von Krieg und Frieden und Bedürfnislosigkeit, von Sehnsucht und Erinnerungen als Reisebegleiter, jedenfalls wenn es keine Abschürfungen gegeben hat, ist es nichts. Denn nicht mit wie viel, sondern mit wie wenig man auszukommen imstande ist, muss man ermessen ...«

Die Lesung hatte eine knappe Stunde gedauert, Applaus, Kritik am Literaturbetrieb, Verkauf signierter Bücher, im ausgebauten Keller belegte Brötchen, ein Glas Sekt, und der Buchhändler meinte skeptisch, ob es im Land der »Dichter und Denker« überhaupt noch Dichterlesungen geben wird.


Brieftauben im Hinterhof
Ein Abend im Spätherbst, am Himmel Rauch von Schornsteinen, die Sonne hinter Mietskasernen untergegangen, der Zug fährt neben dem Güterbahnhof an mehr und mehr Gleisen und Weichen vorbei, an überfüllten Stadtbahnzügen und an Schrebergärten voll Obstkörben. Und die Reisenden, sie freuen sich, sie sind nun wieder zu Haus. Und die Mitglieder vom »Kickers Club« rufen »Hip-hip-hurra«.

Der Zug hält auf einem Gleis unweit eines Hinterhofs kurz vor dem Bahnhof. Die Ferien sind zu Ende, und die Reisenden blicken nun in einen Hinterhof wie in des Städters »Heimat«. Dort stand die allen seit ihrer Kindheit bekannte Teppichklopfstange mit dem Hinweis »Teppich klopfen verboten«. Eine Katze am Rand des Hofes fängt wie immer Mäuse beim Müllkasten, und ein »gottverdammter Köter« bellt, dass die Portiersfrau mit dem »Hundefänger« droht, wie anno dazumal.

Im Hochparterre schaut ein alter Mann aus dem Fenster, hat die Unterarme aufgestützt, die vom Kegeln mit dem Club »alle Neune« schmerzen, er winkt dem Zug lange und spöttisch zu und scheint zu fragen: »Wie, zum Teufel, war denn das dreckige Wetter bei euch?« Über ihm dann, im ersten Stock, singen Kinder laut und fröhlich: »Kinder, Kinder, wie die Zeit vergeht, und alles sich im Kreise dreht!« Das ist ein Lied, das der Mann mit dem Leierkasten von Bacigalupo spielte, mit einem Äffchen an der Kette, das die Groschen einsammelte, die die Hausfrauen aus den Fenstern schmissen. Und dann sieht man im Hinterhof noch ‘ne olle Frau, die ihren »Liebling«, einen Papagei, genannt »Lorchen«, auf dem Balkon in die Sonne stellt. Im vierten Stock, stellt man sich vor, wohnen fleißige Handwerker, auch Wäscherinnen von zweifelhaftem Ruf. Und endlich nun der Dachboden, auf dem die Portiersfrau Brieftauben züchtet.

Eine Woche später nun trieb ihn seine Neugier in die Ackerstraße mit dem Hinterhof, den er beim Vorbeifahren des Zuges gesehen hatte. Er stand vor der Haustür, betrat die Kneipe nebenan, bestellte sich eine »Weiße mit Schuss« und sah sich um, denn er wollte binnen einer Stunde die Leute im Hinterhof beurteilen können. Die Portiersfrau, die Brieftauben züchtete, von ausgeprägtem Ortssinn und hoher Fluggeschwindigkeit, lachte ihn aus, als er behauptete, Brieftauben würden auch vom »Geheimdienst« verwendet. Der Mann im Hochparterre erklärte, einen Film mit »Pat und Patachon« gesehen zu haben, den nur ein einziger »komisch« gefunden hatte. Die Frau im dritten Stock hatte beschlossen, ihren Papagei zusammen mit dem »Äffchen« des Leierkastenmannes im Circus als »Akrobat Schön« auftreten zu lassen. Aber die Möbelträger, sie waren die Allerehrlichsten, denn sie trugen die Möbel vorn ins Haus und hinten wieder raus. Und wer eigentlich würde heutzutage noch in einem Hinterhof wohnen wollen mit oder ohne Brieftauben?



Joachim Seyppel - am 3. November wurde er 93 Jahre alt und, ach, die Arthritis! - schleppt sich immer noch jeden Tag fünf Stockwerke hoch in seine Hamburger Wohnung. Und nicht nur das. Nach dem Motto »Schreiben ist Leben« produziert er Texte, indem er in seinen Erinnerungen kramt. Die sind wahrhaftig wild und bunt. Aber kein Verlag scheint sich mehr dafür zu interessieren. So knüpft er seine Hoffnung - wer hätte das vor Zeiten noch gedacht - an die Zeitung »neues deutschland«.

Da hat sich in der Redaktion nun schon eine dicke Mappe mit seinen Manuskripten angesammelt, getippt auf einer Schreibmaschine, korrigiert durch Ausschneiden und Überkleben. Manchmal liegt ein Brief dabei: Wir erfahren, dass Joachim Seyppel sich bei einem Sturz die rechte Hand verstaucht hat und das Schreiben ihm schwer fällt. Immer wieder die Klage, dass die 600 Euro Rente nicht zum Leben reichen, zumal Medikamente teuer sind.

Nun sind nd-Honorare zwar mager, aber immerhin stellt sich hiermit wieder ein Kontakt zwischen Lesern und einem Autor her, der in früheren Zeiten über 30 Bücher veröffentlicht hat.
Joachim Seyppel
Joachim Seyppel
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