Die »Mitte« - ein umkämpftes Floß

Katja Kullmann: Spannend zu lesende Sozialdiagnose aus eignem Erleben

  • Bernd Hüttner
  • Lesedauer: 4 Min.

Nein, der Bezug von Hartz IV war nicht vorgesehen im Lebensplan von Katja Kullmann. 2002 schrieb sie mit Anfang dreißig den Bestseller »Generation Ally. Warum es heute so kompliziert ist, eine Frau zu sein« und war danach eine erfolgreiche Journalistin. Sie gehörte zu den zwischen 1965 und 1980 Geborenen, die sich für ihr Leben Weitsicht und Würde, Coolness und Dissidenz, Innovation, Emanzipation und Freiheit vorgestellt und das auch eine ganze Weile gelebt hatten. Selbstverwirklichung war ihr zentrales Credo.

Aber irgendetwas ging schief. Die Mieten wurden immer teurer, die Honorare sanken, Konkurrenz und Misstrauen schlichen sich in die Freundschaften ein. Einige konnten ihre Armut nicht mehr so gut verstecken, andere lebten mit Mitte dreißig vermutlich immer noch von ihren Eltern, worüber sie selbstverständlich schwiegen. Die Mitte, von der man fälschlicherweise annahm, zu ihr zu gehören, war keine bunte Hüpfburg mehr, sondern ein umkämpftes Floß.

2008 ist es soweit. Katja Kullmann ist pleite und bezieht für ein Jahr Hartz IV. Der Wunsch nach Selbstverwirklichung wurde nicht nur für sie zum Fluch. Kreativ war nun jeder, und es wurden immer mehr. Die coole Selbstgestaltung wurde zur Selbstoptimierung, ausgerichtet an fremden Maßstäben. Sisyphosarbeit. Sicherheit und Aufstieg - Bildung sollte dafür die Voraussetzung sein - was für eine Illusion!

Im Prekariat der Text- und Wissensarbeiter geht die Statusangst um. 4,2 Millionen Solo-Selbständige gibt es, Tendenz steigend. Der Durchschnittsverdienst der Angehörigen der Künstlersozialkasse beträgt 12 bis 15 000 Euro pro Jahr. Solche Zahlen, wie etwa zur Reichtumsverteilung, streut die Autorin immer wieder in ihre autobiografische Erzählung ein.

Katja Kullmann und die Leute, über die sie schreibt, sind keine Neoliberalen, aber auch keine Linken. Sie nahmen die Herausforderungen des Neoliberalismus ernst. Nun stellen sie fest, dass sie am Rande stehen und womöglich gar von Armut bedroht sind. Gleichzeitig haben die unheimlich alt aussehenden Jungen, wie etwa Guttenberg oder Katharina Schröder nie privat irgendetwas riskiert oder gar Unternehmergeist gezeigt, sie haben sich schlicht und ganz wie in den 1950ern hochgedient.

Hartz IV macht klein, schreibt Kullmann. Kurz nachdem die Aufforderung eintrifft, sie müsse ihre zu große Wohnung aufgeben, gewinnt sie im übertragenen Sinne im Lotto und bekommt einen Leitungsjob in einem, wie sie es nennt »Shopping-Luder-Magazin«. Prag- matisch sagt sie sich: Ich bin nicht mehr jung und brauche das Geld - und zieht von Berlin nach Hamburg. Dort macht sie erstaunlich gute Erfahrungen, trifft nette und solidarische Kolleginnen (»keine wäre je auf die Idee gekommen, sich das Magazin, das wir produzierten, freiwillig am Kiosk zu kaufen«). Als dann eine Kündigungswelle über den Verlag rollt, die sie selbst zwar verschont, kündigt sie aber trotzdem - um das zu tun, was sie gut kann: Haltung bewahren.

Katja Kullmanns Buch wird überall empfohlen und bejubelt. Zu Recht. Es ist eine spannend zu lesende Sozialdiagnose über ein bildungsstarkes Milieu, das nun auf dem Boden der Tatsachen angekommen ist. Sie schreibt sehr ehrlich, auch wenn ihr Buch Teil dessen ist, was sie kritisiert, und sie zu den Gewinnern gehört, zumindest im Moment. Es gibt ausgesprochen lustige Passagen und viele, die traurig stimmen.

Man erfährt, dass nicht Unentschiedenheit das Problem dieser Leute ist, wie ihnen oft vorgeworfen wird, sondern die Ballung von Entscheidungen. Man liest einiges darüber, wie die sich sehr reflektiert fühlenden Freunde nicht in der Lage sind, über ihre Situation zu reden, ja, wie stark die Ökonomie oder auch die eigene Klassenherkunft deren Verhalten prägt. Man kann sogar das Bedürfnis nach Normalität verstehen, das die Autorin empfindet.

Kullmanns Buch macht deutlich: Eigensinn und Solidarität zwischen den Menschen gibt es wohl, aber sie sind klein und permanent gefährdet, sie müssen gepflegt werden, und oft sind sie versteckt. Sie können durch Offenheit und Zusammenhalt wachsen.

Das müssen viele aus dieser Generation erst lernen, und das wäre dann auch ein spannendes Thema für Gewerkschaften und linke Parteien.

Katja Kullmann: Echtleben. Warum es heute so kompliziert ist, eine Haltung zu haben. Eichborn Verlag. 256 S., geb., 17,95 €.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal