Es begann mit Kain und Abel

Eine Geschichte der Gewalt

  • Harald Loch
  • Lesedauer: 3 Min.

Die »gefühlte« Gewalt nimmt zu, die reale hingegen ab. Dies ist die Kernaussage von Steven Pinkers monumentalem wie sensationellem, mit Fakten, Daten und Belegen prall gefülltem Buch. Und sie hält wissenschaftlichen Nachprüfungen stand.

Den Beweis für die abnehmende Gewalt erbringt der amerikanische Psychologe mit statistischen Methoden. Am Anfang stand das Dilemma: Misst man in absoluten oder in relativen Zahlen? Pinker entschied sich für letzteres und ironisiert diese Wahl mit dem Ur-Beispiel aus der abrahamitischen Mystik des Alten Testaments: Als Kain seinen Bruder Abel erschlug, lebten außer den beiden Brüdern nur deren Eltern Adam und Eva, also vier Menschen auf der weiten Welt. Die Mordquote von also 25 Prozent ist später nie wieder erreicht worden. Die Chance, dass ein Mensch in prähistorischen Gesellschaften ums Leben kam, betrug bis zu 60 Prozent, während sie in der schrecklichen ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Europa »nur« bei etwa drei Prozent lag. Manch einem mag solche Messung problematisch erscheinen, sie ist aber auch in Kriminalstatistiken üblich und wurde von den Wissenschaftlern übernommen.

Zu einer signifikanten Abnahme der Todesfälle durch Mord oder Krieg führte die Bildung von Staaten, die die Ausübung von Gewalt monopolisierten. Im analytischen Teil seines Buches folgt Pinker dem Soziologen Norbert Elias, der den »Prozess der Zivilisation« beschrieben hat, sowie Immanuel Kant und anderen Aufklärern, die eine »Humanitäre Revolution« ausgelöst hätten. Die Zivilisation habe das Austragen von Streitigkeiten den Gerichten zugewiesen, die Aufklärung habe die Würde und gleiche Rechte aller Menschen eingeklagt. Die Abschaffung von Sklaverei, Folter und der Todesstrafe gehören zur Erfolgsgeschichte beim Abbau von Gewalt.

Im historischen Teil seiner Arbeit untersucht Pinker Ursachen und Ausmaß von Kriegen. Sie wurden teils durch materialistische (territoriale) Forderungen, teils durch ideologische (religiöse) Differenzen ausgelöst. Verletzte Ehre von Herrschern, Nationalismus und andere irrationale Faktoren hätten die Opferquoten vergangener Jahrhunderte in die Höhe getrieben. Pinker ist kein Historiker. Er stützt sich aber auf deren Arbeiten, u. a. die der deutschen Geschichtswissenschaftler Jürgen Osterhammel und Heinrich-August Winkler. Sonderfälle der Neuzeit wie den Nationalsozialismus beschränkt Pinker auf Einzelpersonen (Hitler); ihnen stellt er kriegsvermeidende Persönlichkeiten wie Kennedy und Chruschtschow (in der Kuba- wie in der Berlin-Krise) oder Gorbatschow (bei der Auflösung der DDR) gegenüber.

Der Autor wagt auch einen Ausblick, und der ist optimistisch. In der modernen Weltgesellschaft werde sich Kants kategorische Imperativ als moralisches Vernunftkriterium durchsetzen.

Steven Pinker: Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit. A. d. Amerik. v. Sebastian Vogel. S. Fischer, Frankfurt/Main. 1212 S., geb., 26 €.

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