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Vom harmvollen Los der Abgehängten

Ralph Grüneberger und sein Gedichtband »Bunte Pleite«

  • Peter Gosse
  • Lesedauer: 5 Min.

Drei Begriffe sind es, die von altersher die bemerkenswürdige Kunstleistung verstehen helfen: ars - ingenium -- doctrina. Diese Dreigestalt, oder Dreifaltigkeit, müsse sich im Werk als beherzigt auffinden lassen. Ars meint dabei nicht Kunst in Bausch und Bogen, sondern das Hand- oder vielmehr Mundwerk; ingenium -- wir hören es ja - jene von Natur gegebene besondere geistig-seelische Prägung; doctrina schließlich will selbstredend nicht aufs rechtens verpönte Doktrinäre hinaus. Gefährte Heinrich Heine hatte in seinen Gedichten »Doktrin« und »Zur Doktrin« («Fürchte dich nicht und küsse die Marketenderin; laß dich nicht kirren, laß dich nicht wirren«) uns bereits ein kräftiges antidoktrinäres Licht aufgesteckt.

Was dann aber ist doctrina?

Es ist jener kristalline, kaum benennbare, indes allenthalben spürbare Absichtskern, zu dem sich das Gedrücke und Gedruckse des Erfahrenen befestigt. Erfahrung - in sie herein spielt oder schrillt Welt, Umwelt, Umfeld, ja die Historie, insofern sie sich erlebbar macht. Andersherum gesagt: Die Zeitläufte suchen sich immer, und immer erfolgreich, eigenbrötlerische Artikulateure, in denen sie, die Zeitläufte, sich zur Anschauung bringen. In Ralph Grüneberger haben sie einen gefunden, die wählerischen; in Leipzig, der 500 000-Einwohner-Stadt, so sympathisch sie ansonsten ist, gibt es von den Nennens-Fähigen (und also Nennenswerten) circa eine Handvoll.

Wie nennt Grüneberger?

Die Schärfe seines Tones hat zugenommen seit dem Lyrikband »Blühende Landschaft« von vor zehn Jahren - aus der Ironie ist Sarkasmus geworden; dieser grundiert die fünfzig Gedichte der »Bunten Pleite«, der - so der Untertitel - »Nachrichten aus der Provinz«. Das Unwirsche hat zugenommen in diesem ansonsten sanguinisch temperierten Mann über die Jahre; liegt das an ihm?

Nein doch! Die doctrina - unterm Andrang geschehender Bitternisse musste und muss sie aushärten. Was R.G. nie entgeht, was er nie aus seinem ziemlich unbestochenen Auge verliert, ist das harmvolle Los der Abgehängten. Die nimmt er - strikt aus eigenem Erleben schöpfend - wahr als Gebeutelte des Zweiten Weltkrieges; als Zurückgesetzte, da das ostdeutsche System seine großgemeinten Hoffärtigkeiten hatte schlimm verkümmern lassen; als Prekarier, da das mit verständlicher Heftigkeit herbeigewünschte Geldsystem das, wie Heiner Müller es nannte, »eiserne Gesicht seiner Freiheit« zeigt. Dies findet auf uns kunstreich, also in einer Sprache von herber Stichhaltigkeit: selten einmal ein Ich, spröde-lapidare Satzgefüge; der Dichter spricht klar und kühl:

Eingeschneit liegen die Menschen / Auf dem Kanapee, das gute / Böhmische Bier im Blut / Zugeweht bis zum Hals / Das Programm zwischen Alk und Alg ( im Gedicht »Winter in Marienberg«).

So hingeblickt, erfahrungsbeglaubigt und erlebnisdiktiert, weitet sich die protokollierte Provinz - die mitteldeutsche Tieflandsbucht - unversehens zu Welt, und womöglich drängt sich die düstere Vision auf, dass Deutschland sich nicht so sehr abschafft als vielmehr abschaltet von den edlen Errungenschaften der Kern-Physik. Gehe ich zu weit? Jedenfalls könnte die Grünebergersche ingeniöse Halbjahrhundert-Sichtung mit einem Rilke-Wort (aus den Duineser Elegien) überschrieben sein.

Jede dumpfe Umkehr der Welt hat solche Enterbte,

Denen da Frühere nicht und noch nicht das Nächste gehört. Wird es ihnen gehören, das Nächste? Grüneberger zweifelt. Gelegentlich einer Hommage auf den großartigen Hilbig zitiert er den Dichter-Kollegen Reimann durchaus mitgehend: »unser ganzer Planet verkommt in Dumpfheit, Verrohung und Dreck«. Doch wie aufregend: Seine Gedichte sind milder, barmherziger, hoffnungstiftend. Denn siehe: so schließt das »Marienberg«-Gedicht:

Ein berggekrümmter Mann / Auf dem Markt schippt / Anderen eine Schneise / Denkt, wird denn meine kleine / Elena an der Straße nach Komotau / Ohne meine Stütze satt? Nahegehend, wie sich der Alte um die Tochter (oder Enkelin) sorgt, obwohl sie sich als Nutte verdingt.

Und was unterbreitet das Gedicht »Viergenerationenhof« angesichts eines Gehöfts im Sächsischen, aufrechterhalten ausschließlich von Frauen; die Männer sind samt und sonders davon, mutmaßlich durch Krieg, durch den Sog der reicheren Westgegend oder den von lendenfreudigeren Gespielinnen. Leicht ließe sich eine Atmosphäre wechselseitiger Missgunst erwarten, jener Rache also, die das ungelebte Leben an sich selber nimmt.

Doch nein! Duldung obwaltet zwischen den Vieren, gestützt die eine auf die andere - in Grüneberger schlägt sich, oder eher zupft sich, jene Saite wechselseitiger solidarischer Zutunlichkeit an, die allein ein Künftiges ermöglicht.

Bislang weist der »Große Conrady», die Fundamental-Anthologie deutscher Dichtung, sozusagen der Lyrik-Duden, Grünebergern nicht vor. Eine Unangemessenheit freilich, ja ein Fehler wäre es allerdings, sollte ein aktualisierte Neu-Auflage diese Lücke offenhalten. Die Gedichte »Hochsitz«, drastische Verunglimpfung von Obrigkeit am Beispiel seelisch verkarsteter Jäger (und übrigens vom unikalen Holzstecher Karl-Georg Hirsch nicht so sehr illustriert als vielmehr illuminiert in diesem überhaupt von Jens-Fietje Dwars in seiner EDITION ORNAMENT aufs delikateste edierten Büchlein) - also die Gedichte »Hochsitz« sowie »Im Park von Kochberg«, die zehrende zarte Einklage unverwundenen Liebesverzichts (nämlich der Frau von Stein und des Gedicht-Ichs, und wer erführe bei der Lektüre nicht, dass es auch ihn oder sie oder dich und mich betraf) - sie, diese Texte, gehören zur Substanz deutschen Dichtens. - Im neuen Conrady stünde Grüneberger dann zwischen Grünbein und Grüning: hinter diesem zwar, aber vor jenem, und das wäre doch ein statthaftes Plätzchen.

Ralph Grüneberger: Bunte Pleite. Nachrichten aus der Provinz. Fünfzig Gedichte 1986-2010. Mit fünf Zeichnungen und einem Holzschnitt von Karl-Georg Hirsch, herausgegeben, gestaltet und mit einem Nachwort von Jens-Fietje Dwars. Edition Ornament im Quartus-Verlag. 72 S., brosch., 14,90 €.


Peter Gosse, geboren 1938 in Leipzig, ist als Autor zahlreicher Lyrik-. Prosa- und Essaybände bekannt.

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