Schutz gesucht

Erste repräsentative Studie über Gewalt gegen Frauen mit Behinderung: alarmierende Zahlen

  • Ulrike Henning
  • Lesedauer: 3 Min.
Eine erste repräsentative Untersuchung hat die Lebenssituation und die Belastungen von Frauen mit Behinderungen in Deutschland untersucht. Ein Teil der Ergebnisse wurde gestern in Berlin vorgestellt.

Sie werden angefasst, wenn sie es nicht wollen. Sie können Toilette und Bad nicht verschließen. Viele haben keine eigene Wohnung, oft kein eigenes Zimmer. Sie dürfen nicht einmal mitbestimmen, wer mit ihnen das Zimmer teilt. Und sie sind sexualisierter Gewalt ausgesetzt - deutlich häufiger als nichtbehinderte Frauen.

Die Formen der Diskriminierung und die Gewalterfahrungen, denen behinderte Bewohnerinnen von Gemeinschaftseinrichtungen noch häufiger ausgesetzt sind als Frauen, die in Haushalten leben, sind vielfältig und bedrückend. Forscherinnen der Universität Bielefeld sowie aus Freiburg und Köln befragten im Auftrag des Bundesfamilienministeriums über 1500 Frauen im Alter von 16 bis 65 Jahren. Staatssekretär Hermann Kues bezeichnete es als besonders alarmierend, dass diese Frauen »zwei- bis dreimal häufiger sexuellem Missbrauch in Kindheit und Jugend ausgesetzt waren als der weibliche Bevölkerungsdurchschnitt«.

Ähnlich sieht es beim Risiko aus, Opfer von Gewalt zu werden. Es liegt mit bis zu 75 Prozent bei behinderten erwachsenen Frauen mehr als doppelt so hoch wie bei Frauen allgemein. Psychische Gewalt in ihrer Kindheit hat mindestens die Hälfte der Befragten schon durch die Eltern erleben müssen - im Vergleich zu 36 Prozent der Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt.

Zum sexuellen Missbrauch behinderter Frauen durch Erwachsene kommt nicht selten der durch andere Kinder und Jugendliche hinzu. Am stärksten betroffen in diesem Bereich sind mit 52 Prozent gehörlose Frauen. Sie wurden vor allem in Behinderteneinrichtungen und Internaten Opfer von Übergriffen. Bei Betroffenen mit geistiger Behinderung vermuten die Forscherinnen ein erhebliches Dunkelfeld, da sich viele nicht mehr erinnern konnten oder keine Angaben machten.

Sexualisierte Gewalt wird im sozialen Nahraum, durch Verwandte und Partner, aber auch Mitbewohner und Mitarbeiter von Gemeinschaftseinrichtungen ausgeübt. Hinzu kommt das Risiko, Gewalt an öffentlichen Orten durch unbekannte Täter zu erleben. Thematisiert wurden in der Studie auch Diskriminierung und strukturelle Gewalt. Das beginnt damit, ungefragt geduzt oder angestarrt zu werden, führt über den mangelnden Schutz der Privat- und Intimsphäre und geht bis zur Rücksichtslosigkeit von Ämtern und Behörden, die nötige Hilfsmittel für die Kommunikation verweigern.

Handlungsbedarf gibt es insbesondere im Hinblick auf eine barrierefreie Beratung der Geschädigten. Dazu gehört ein jederzeit erreichbares Hilfetelefon, das zur Zeit aufgebaut wird und Ende 2012 starten soll. Nach Angaben des Bundesfamilienministeriums soll das kostenlose Telefon täglich 24 Stunden erreichbar sein und kompetente Erstberatung ebenso anbieten wie die Weitervermittlung an das Hilfsangebot vor Ort.

Bereits begonnen hat die Ausbildung der ersten Frauenbeauftragten in 16 Werkstätten und Wohnheimen. Diese selbst behinderten Frauen sollen mit ihrem Gesprächsangebot dazu beitragen, dass nicht erneut über den Kopf der Betroffenen hinweg entschieden wird. Die Beauftragten erhalten jeweils eine Unterstützerin an ihre Seite, die im Büro und im Gespräch assistiert. Die ersten Erfahrungen mit dem Projekt hätten ergeben, dass die Einrichtung einer solchen Stelle wie ein Seismograph für Benachteiligungen und Übergriffe wirke. Über das Thema sexualisierte Gewalt werde häufiger gesprochen, Vorfälle seien schneller entdeckt und untersucht worden.

Wie weit der Weg zu einem gleichberechtigten Zugang behinderter Frauen zu angemessenen Beratungsangeboten allerdings noch ist, zeigen schon allein die Zahlen. Für die erste repräsentative Untersuchung zur Gewalt gegen behinderte Frauen hatten die Wissenschaftlerinnen in 1000 Einrichtungen für Behinderte in ganz Deutschland recherchiert, 14 qualifizierte Beraterinnen sind zur Zeit aktiv. In ihrer vollständigen Fassung sollen die Ergebnisse der Untersuchung Anfang 2012 vorliegen.

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