»Ein Nest für die Welt«

Der indische Dichter Tagore ist Vorbild für eine ungewöhnliche Schulpartnerschaft

  • Antje Stiebitz
  • Lesedauer: 5 Min.
Schulunterricht nicht als »Lernmühle«, vollgestopft mit standardisiertem Wissen, sondern orientiert am einzelnen Schüler? Die Lernphilosophie des indischen Universalgelehrten und Nobelpreisträgers Rabindranath Tagore ist Vorbild für eine Schule in Berlin-Marzahn. Vor Kurzem erhielt sie Besuch von der Partnerschule aus Indien.

Eine Schule, in der Schüler Freude am Leben lernen? Eine Schule ohne Klassenräume, in der Lehrer und Schüler für den Unterricht im Freien, unter Bäumen, zusammenkommen? Eine Schule, in der Schüler von der Einheit aller Menschen und Nationen erfahren, von einer Welt, die eins ist? Das klingt utopisch. Und doch gibt es sie: Sie liegt in Shantiniketan, einem Ort im indischen Bundesstaat Westbengalen. Ihr Name ist Patha Bhavana und sie wurde bereits 1901 vom ersten asiatischen Literaturnobelpreisträger Rabindranath Tagore (1861 bis 1941) gegründet.

Sieben Schüler und drei Lehrer aus Shantiniketan machten sich kürzlich auf den Weg nach Berlin, um für zwei Wochen die Schule zu besuchen, die den Namen ihrer Leitfigur trägt: die Tagore-Schule in Berlin Marzahn-Hellersdorf. »Wir haben vor allem Spaß«, verkündet der 17-jährige Sreyam Gosh. Sein Strahlen erlaubt keinen Zweifel. »Wir wollen eine Fusion aus der deutschen und indischen Kultur«, fügt er dann ernst hinzu. »Tagore hat gewollt«, schaltet sich Bodhirupa Sinha, Direktorin der indischen Schule, erklärend ein, »dass Shantiniketan ein Nest für die Welt ist. Also wollten auch wir die Welt da draußen sehen. Wir wollen das teilen, was wir haben, und das mit nach Hause nehmen, was wir hier lernen.«

Im Koffer hat der Besuch aus Indien vor allem Tanz und Musik. Im dicht gedrängten Theatersaal der Tagore-Schule führt eine der Schülerinnen gerade einen Ausschnitt aus Tagores Tanzdrama Chandalika auf. Ihre präzisen und trotzdem weichen Bewegungen erzählen die Geschichte des Mädchens Chandalika, das traurig ist, da sie zur Kaste der Unberührbaren gehört, was ihr ein Leben in Würde verwehrt. Ohne Musik und Tanz, ohne Sozialkritik ist Tagore nicht denkbar. Obwohl er durch das Schreiben von Gedichten, Kurzgeschichten und Essays bekannt wurde, war er auch Musiker, schrieb Musikstücke und Tanzdramen. Tagore habe immer betont, dass jeder Mensch fähig sein sollte, die Kunst zu schätzen, erklärt Bodhirupa Sinha. »Du musst kein Sänger oder Maler werden, aber du solltest ein gutes Gemälde oder Musikstück schätzen.« Deswegen werden die Kinder in Shantiniketan allen Formen der Kunst ausgesetzt - und dafür sensibilisiert. Tagore modernisierte die Kunst, indem er ihre Struktur und Form aufbrach. Ähnlich wendete er sich, das Stück Chandalika zeigt es, gegen hinduistische Konventionen. Er selbst war Brahmane, gehörte also zur begünstigten Kaste im Hinduismus, aber es quälte ihn, dass es die Unberührbaren gab, jene, die ihr Leben in gesellschaftlicher Verachtung fristen.

Heute gilt Tagore als Universalgelehrter, Philosoph und Pädagoge. Allerdings war der schöpferisch begabte Schüler Tagore für seine Lehrer sicherlich eine Herausforderung. Denn er litt unter der damals üblichen Wissensvermittlung und dem Unterrichtsstoff, den er in seinen Kindheitserinnerungen (»Meine Kindheit in Indien«) als »Last« beschreibt, von der er sich stets befreien wollte. Schule war für ihn eine »Lernmühle« und »knirschende Maschinerie«. Über die Bänke und Tische des Klassenzimmers schreibt er frustriert: »Sie waren immer gleich - starr, einzwängend und tot.« Mit 14 Jahren brach er seine Ausbildung ohne Abschluss ab. »Deswegen hat er eine Schule ohne Klassenräume gebaut, in der sich Lehrer und Schüler unter Bäumen versammeln - um der Natur nahe zu sein« erklärt Bodhirupa Sinha.

Betritt man die Tagore-Schule in Marzahn-Hellersdorf, fallen sofort die von den Schülern bunt gestalteten Gänge auf. Der Name des Dichters passe gut zum Profil der Berliner Schule, findet Direktorin Petra Varga, da sich die pädagogischen Ideale überschneiden. »Tagore stellte Kunst und Musik in den Mittelpunkt der Ausbildung, und hier sehen auch wir unseren Schwerpunkt.« Außerdem, fährt sie fort, habe Tagore sein Lehrkonzept auf praktischem Tun aufgebaut und auch an ihrer Schule würde selbstständiges Handeln durch den methodischen Aufbau des Unterrichts unterstützt.

Doch es gibt nicht nur Einigendes zwischen Patha Bhavana und der Tagore-Schule in Berlin: Tagores Konzept sei völlig auf Individualität ausgerichtet, erklärt Petra Varga. »Das Lernen vom Kind aus zu gestalten, das lässt sich für uns mit 32 Kinder und im 45-Minuten-Unterrichtstakt rein organisatorisch nicht umsetzen.« Sie hätten Rahmenpläne zu erfüllen und die Schüler auf Prüfungen vorzubereiten. »Wir sind da nicht so frei in unseren Entscheidungen. Auf jeden Fall ist das eine schöne Art des Unterrichtens, wenn man diese Freiheit hat«, fügt sie hinzu.

Beeindruckt ist Petra Varga von der »unglaublichen Offenheit« ihrer Gäste. »Sie genießen es, hier zu sein, da ist kein Abstand im Miteinander der Jugendlichen.« Um den Austausch zu fördern, frühstücken die Besucher jeden Tag in einer anderen Klasse. Und in den Pausen zeigen sie immer wieder Kostproben aus ihrem Musikrepertoire. »Außerdem gibt es ein Tanzprojekt und eine Baumpflanzung, in die unsere Schüler eingebunden sind, das verbindet.« Und natürlich gehören Besichtigungen in der Stadt zum dichten Programm.

Vor zwei Jahren besuchten einige Schüler der Tagore-Schule Shantiniketan. Und die Beziehung zwischen den Schulen soll vertieft werden. Zum Beispiel würden in den siebten Klassen E-Mail-Freundschaften aufgebaut, erklärt Petra Varga. Und sowohl in Indien als auch in Berlin würden Projekte unternommen, die dann ausgetauscht werden: Beispielsweise schickte die Tagore-Schule eine Projektarbeit zum Thema »20 Jahre Mauerbau« nach Indien. Für die Jugendlichen ist klar, dass sie in Kontakt bleiben: »Über Facebook.«

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