Ihr Vorschlag bitte, Doktor Watson

Eine medizinische Zweitmeinung einzuholen ist ein Patientengrundrecht. Es wird kaum genutzt, dabei kostet es nichts

  • Magnus Heier
  • Lesedauer: 6 Min.

Der häufigste Fehler in deutschen Arztpraxen und Krankenhäusern: Es wird zu viel diagnostiziert. Zu viel verschrieben. Zu viel operiert. »In Deutschland wird fast doppelt so oft am Bewegungsapparat operiert wie in den Nachbarländern. Zwei- bis dreimal häufiger an den Kreuzbändern im Knie, siebenmal häufiger an den Bandscheiben«, sagt der Chirurg Hans Pässler. Für Eingriffe an Gebärmutter und Prostata gelte grundsätzlich das gleiche. Pässler hat mit Kollegen kürzlich unter der Überschrift »Vorsicht.Operation!« ein Zweitmeinungsportal ins Internet gestellt. »Wir wollen vor allem überflüssige Operationen verhindern«, sagt er. Das Prinzip ist naheliegend, und es wundert, dass es nicht schon seit Jahren angeboten wird: Patienten, die vor einer Operation stehen, aber verunsichert sind, können sich ohne Vorbedingungen an einen der Spezialisten wenden, ihre Befunde einschicken, einen Fragebogen ausfüllen - und bekommen eine Einschätzung darüber, ob die empfohlene Operation wirklich sinnvoll ist oder nicht. Widerspruch ist garantiert: In der Vergangenheit hat Pässler nach eigenen Angaben mehr als jede zweite geplante Operation für überflüssig erklärt.

Es ist unstrittig, dass eine zweite medizinische Meinung in vielen Fällen sinnvoll ist. Der Weg von »Vorsicht.Operation!« dagegen ist umstritten. Die Mediziner verzichten nämlich darauf, die Patienten selbst zu sehen und beschränken sich auf deren Befunde. Die Methode spart zwar Zeit, bereitet aber jedem Arzt Bauchschmerzen. »Es gibt keine sinnvolle Untersuchung, ohne dass ich Augen und Hände benutze - alles andere wäre absurd«, sagt Dieter Haack, Vorsitzender des Berufsverbandes niedergelassener Chirurgen. »Wenn das Schule machen würde, bräuchten wir keine Arztpraxen mehr sondern nur noch Internetzugänge.« Zumindest bemühen sich die Chirurgen um Pässler um ein umfangreiches Bild: »Unsere Patienten müssen in einem Fragebogen über hundert Fragen beantworten, sie bekommen Grafiken vom Knie zum Ankreuzen, sie schicken Fotos von sich ein und die entsprechenden Vorbefunde - das reicht zumindest in der Orthopädie für eine zuverlässige Diagnose.« Das wird allerdings von vielen Ärzten bezweifelt.

Das zweite Problem: Die Chirurgen verlangen zwischen 200 und 600 Euro für eine zweite Meinung - je nach Schwierigkeit des Falles. Ein angemessener Preis? »Ich brauche zwei bis drei Stunden für ein Gutachten«, argumentiert Pässler. Allerdings gibt es Alternativen zum Nulltarif! Jeder Patient, egal ob privat oder gesetzlich versichert, hat das Recht auf eine zweite Meinung, die er sich allerdings auf eigene Faust einholen muss. Ist ein Patient verunsichert - egal ob es sich um eine geplante Operation, eine andere Art der Behandlung oder auch nur die Diagnose selbst handelt - kann er sich jederzeit bei einem Arzt seiner Wahl erneut vorstellen. Will er, als gesetzlich Versicherter, zu einem anderen Facharzt, kann er sich entweder eine neue Überweisung vom Hausarzt besorgen - oder die Praxisgebühr von zehn Euro investieren und einfach hingehen. Die Vorbefunde (Röntgenbilder, Laborwerte, Untersuchungsbefunde, Arztbriefe) bekommt er vom ersten Arzt - es gibt ein Recht auf diese Unterlagen, lediglich Kopierkosten könnten verlangt werden.

Das Irritierende: Patienten nutzen dieses wichtige Recht auf eine zweite Arztmeinung kaum. Auch dann nicht, wenn sie schwer verunsichert sind - etwa vor einer Operation, deren Sinn sie nicht verstehen. Die Hemmung, von einem Arzt die eigenen Unterlagen zu verlangen, ist offensichtlich noch immer zu groß. Aber die Unterlagen sind entscheidend, denn eine Zweitmeinung kann nur so gut sein, wie die Informationen, die der zweite Arzt bekommt. Außerdem müssen sich Patienten ihren »Zweitmeinungsarzt« selbst suchen - auch das kann ein Grund für die fehlende Nutzung sein.

Einen leichteren Weg bietet die AOK Baden-Württemberg seit gut zwei Jahren. Sie bietet ihren Mitgliedern ein Netz von Gutachterärzten. »Wir machen zunächst einen Vorcheck, um die Schlüssigkeit der eingereichten Unterlagen sowie der Anfrage selbst zu prüfen«, sagt Rolf Hoberg, Vorstandschef der AOK Baden-Württemberg. »Einige Anfragen klären sich schon in dieser Phase, etwa jede dritte Anfrage wird an die Gutachterärzte weitergeleitet.« Ein Teil der Patienten wird von den Ärzten selbst gesehen, ein Teil der Fälle in Fachkonferenzen besprochen. Auch hier gilt: Widerspruch ist nicht selten: »Im Bereich Orthopädie wird in etwa 40 Prozent der Fälle von der geplanten Operation abgeraten und stattdessen eine konservative Behandlung empfohlen«, sagt Hoberg. Er will das Angebot ausweiten: »Bisher haben wir uns auf Orthopädie und Onkologie beschränkt, jetzt ist die Urologie dazugekommen, weitere Bereiche sind geplant.« Allerdings hält sich auch bei diesem Programm der Erfolg in ganz erstaunlichen Grenzen: Bisher gab es 2500 Anfragen - bei über 3,8 Millionen Versicherten eine deprimierend geringe Quote. »Die Zahl bewegt sich bisher am unteren Rand unserer Erwartungen«, sagt auch Hoberg. Offensichtlich müssen Patienten den kritischen Umgang mit »ihren« Ärzten erst lernen. Es könnte auch ganz anders funktionieren: »Wir wünschen uns eine Regelung, in der festgeschrieben ist, dass ein Patient nicht mehr direkt ins Krankenhaus zur Operation eingewiesen werden kann, ohne dass er vorher bei einem Facharzt des entsprechenden Gebietes vorgestellt wurde, damit der die Indikation der Operation kritisch hinterfragt«, sagt der Chirurg Haack. Die zweite Meinung soll vertraglich festgeschrieben sein. Haack denkt vor allem an die allzu häufigen Bandscheibenoperationen oder Eingriffe am Knie. Die Kosten würden sich in Grenzen halten: »Wir hatten 40 Euro für eine einmalige Konsultation kalkuliert.« Außerdem würde Geld gespart: durch jede nicht gemachte Operation und durch einen möglichst großen Anteil ambulanter Eingriffe an der Gesamtzahl.

Eine solche Regelung könnte Teil modifizierter Arztverträge sein. Und sie könnte gewährleisten, dass wirklich alle Patienten eine bessere Behandlung bekommen, und nicht nur eine kleine, reflektierte Minderheit, die selbstbewusst genug ist, eine zweite Meinung einzufordern. Solche so genannten Selektivverträge binden die beteiligten Ärzte an Standards, die nicht nur eine maximale Wartezeit festschreiben, sondern auch in die Behandlungshoheit selbst eingreifen können. »Die Ärzte, die sich in Baden-Württemberg an unserem Selektivvertrag beteiligen, müssen sich an die Leitlinien halten - an Leitlinien wohlgemerkt, die von ihren eigenen Standesorganisationen erarbeitet worden sind«, sagt Hoberg. Das ist mehr als ein Nebensatz: Leitlinien sind extrem aufwändig erstellte Handlungsempfehlungen, die von den Ärzteorganisationen auf Grundlage wissenschaftlicher Studien erstellt werden. Trotzdem ist ihre Anwendung unverbindlich - der Arzt darf behandeln, wie er will. Es sei denn, er ist einem solchen Selektivvertrag beigetreten. Kritische Patienten könnten nachfragen.

An einem anderen, ebenfalls naheliegenden System der Qualitätsverbesserung durch Zweitmeinungen arbeitet IBM. Der Computer Watson, der im Februar in den USA spektakulär das beliebte Quiz »Jeopardy« gewonnen hatte, soll umgeschult werden: zu »Doktor Watson«. »Wir sind zuversichtlich, in 24 Monaten ein System auf den Markt zu bringen, das Ärzten eine zweite medizinische Meinung anbietet - möglicherweise direkt am Krankenbett«, sagt Michael Kiess von der Unternehmenskommunikation IBM. Doktor Watson soll, indem er Korrelationen zwischen Stichworten, Symptomen und Befunden herstellt, einen Diagnosevorschlag machen - unter Nutzung der gesamten Weltliteratur an Studien. Profitieren könnten von der unverbindlichen zweiten Meinung vor allem Fachärzte, denen Diagnosen außerhalb ihres Spezialgebiets bekanntermaßen schwerfallen.

Dann ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis Dr. Watson in die Tasche des Arztkittels passt. Und es ist auch klar, in wessen Kittel er letztlich landet: in der des Assistenten. In einer schottischen Studie war vor 15 Jahren bewiesen worden, dass man allein am Gewicht des Arztkittels ermitteln konnte, ob der Träger Chef oder Assistent ist. Der Assistent schleppt kilogrammweise Bücher, Stethoskop und Hammer für seinen Chef - in Zukunft auch noch Dr. Watson

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