Brot des Geistes

Friedrich Dieckmann über den Bücherpfarrer Martin Weskott

  • Lesedauer: 4 Min.
Mit dem Ende der DDR landeten unzählige Bücher aus dem Osten auf dem Müll. Marktbereinigung, eine Sauerei. Pfarrer Martin Weskott, aus dem Westen, avancierte zum (inzwischen europaberühmten) Literatur-Retter. Er bekam das Bundesverdienstkreuz, am Sonntag wurde er 60 Jahre alt. Wir drucken einen Auszug aus einem großen Essay von Friedrich Dieckmann, der die Laudatio hielt, als man Weskott vor einiger Zeit mit der Karl-Preusker-Medaille ehrte.
Brot des Geistes

Martin Weskott, der Pfarrer der Johanneskirche von Katlenburg, Verfasser mehrerer Bücher über die aktuellen Probleme Indiens und Brasiliens und Herausgeber von Katlenburger Predigten über Verse des evangelischen Gesangbuchs, las in der »Süddeutschen Zeitung« von der sonderbaren Feldfrucht, die die deutsche Vereinigung auf den Äckern des Osterlandes zeitigte, er sah das Foto, das die Redaktion dazugestellt hatte, und er ließ es nicht bei Empfindungen und Betrachtungen bewenden: »Des echten Mannes wahre Feier ist die Tat.«

Martin Weskott beschloss, sich die Bescherung anzusehen, und machte sich auf die Autofahrt zu den Buchäckern; ahnte er, worauf er sich einließ? Er war nicht Epimetheus, der Hinterherdenkende, er reagierte prometheisch, also eingreifend, an die Sache denkend, nicht an sich; was aber war die Sache? Die deutsche Einheit war die Sache, die ihn nicht kalt ließ und deren Sinn, deren Geist er durch den Kollateralschaden am Geist bedroht sah. Das Buch ist auch eine Ware, ohne eine solche zu sein, käme es nicht zu den Lesern. Aber es ist eine besondere Ware, ein Wegwerfartikel so wenig wie das tägliche Brot; das Buch ist das Brot des Geistes. Es wegzuwerfen, ohne es sich auch nur angesehen zu haben, dünkte ihn Frevel - Frevel an sich und Frevel im Blick auf das, was durch die Gunst der historischen Stunde möglich geworden war: Niederlegung der Grenzzäune, Grenzmauern, Wiederherstellung einer staatlichen und nationalen Einheit, die ein Führer, der von sich glauben gemacht hatte, auf das Wohl der Nation bedacht zu sein, fürchterlich verspielt hatte.

Martin Weskott fuhr los, er fragte sich durch und fand eins der Lager, in denen sich Bücher als Abfall stapelten; er stieg durch ein Loch im Zaun und erschrak, welche Autoren hier der Verrottung preisgegeben waren: Jaroslav Seifert, der tschechische Nobelpreisträger, und Fjodor Dostojewski, Friedrich der Große und Richard von Weizsäcker, Stefan Heym und Horst Eberhard Richter, Ingmar Bergman und Heinrich Mann. Die Dichter der deutschen Klassik fanden sich im Zehnerpack neben Autoren, die einst mit ihren Werken aus Deutschland ausgetrieben worden waren, dazu alte und neue, bekannte und verborgen gebliebene Autoren des versunkenen Landes Ephesus. Der Finder barg, was er an sich nehmen konnte, achthundert Bände, und ließ es nicht dabei bewenden; er fand Verbündete in und bei Katlenburg, dem grenznahen Ort (...)

Was hatte ihn zu diesem Tun und allem, was daraus folgte, instand gesetzt außer jener protestantisch-prometheisch-pastoralen Grundanlage, in der wir ein geistig-charakterlich Vorgegebenes erkennen können? Martin Weskott hatte zu jener kleinen Minderheit in westdeutschen Landen gehört, die Land und Leute hinter der verzäunten Grenze niemals abgeschrieben hatte, die den Zaun nicht mit jenen verwechselte, die hinter ihm saßen und so wach in die Welt - eine Welt voller Widersprüche, Ängste und Hoffnungen - blickten, gerade weil sie von so vielem ausgeschlossen waren, das auf der andern Seite des Zauns selbstverständlich geworden war. Er kannte die DDR von Kindesbeinen an, sein Großvater war Pfarrer in der Nähe von Erfurt gewesen und war auf besondere Weise zu einem Amt, einem Beruf gekommen, der ihm nicht in die Wiege gelegt war. Dieser Großvater war Prokurist in einem Betrieb gewesen, der nach 1945 enteignet worden war; dem Ansinnen der neuen Regenten, in ihre, die sozialistische Partei einzutreten, hatte er sich nicht durch das Weggehen in Richtung Westen entzogen, sondern durch einen Berufswechsel: Er war Theologe geworden. Von seinen beiden Töchtern war eine in Thüringen geblieben, die andere war nach dem Krieg gen Westen gezogen; so war Martin Weskott 1951 in Fulda zur Welt gekommen und in Bückeburg großgeworden. Aber die Verbindung zum Großvater war bis zu dessen Tod in den sechziger Jahren nicht abgerissen; bis zu seinem 15. Jahr hatte der Enkel dieses andere deutsche Land, das so viel schwerer an der deutschen Katastrophe trug, immer wieder von innen wahrgenommen.

Er ist einer, der nichts nur für sich tun kann, der, was er für sich tut, immer auch für andere ins Werk setzt. So ist auf dem kulturgesättigten Boden dieser tausendjährigen Klosteranlage eine Schatzkammer entstanden, an deren Pforte jeder den Aladin spielen kann. Er braucht nur »Sesam öffne dich!« zu rufen und sich von dem Hexenmeister, der all dies auf den Berg schaffte, mit einer Wunderlampe ausstatten zu lassen, die ihm in schmalen Gängen die Buchrücken erleuchtet.

Friedrich Dieckmann, geb. 1937, ist einer der prägenden deutschen Essayisten für Literatur-, Musik-, Kunst- und Zeitgeschichte. Zahlreiche Bücher (zumeist bei Suhrkamp).

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