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Ungeborene Mütter ohne Kinder

Erstmals tagte das »Berliner Demografieforum«

Weniger Geburten, mehr alte Menschen: Das »Berliner Demografieforum 2012« will den großen Herausforderungen der sich verändernden Gesellschaft »nachhaltig begegnen«. Die Referenten warben jedoch mehrheitlich für sich selbst.

Über dem Berliner Schlossplatz flattern in der Dämmerung riesige Schwärme von Krähen, als nebenan der Vorstandsvorsitzende der Allianz, Michael Diekmann, die »schleichenden Vergreisung« unserer Gesellschaft beschwört. Von den kursierenden Zahlen zieht er die höchsten und schlimmsten heran, um die »Krise ganz anderen Ausmaßes« zu illustrieren, die uns drohe: 2,6 Millionen Demenzkranke, die im Jahr 2050 zu betreuen seien, 3,6 Millionen Einwanderer, die pro Jahr nötig wären, um die Gesellschaft funktionstüchtig zu erhalten. An den Horrorszenarien der vergangenen Jahre sei also doch einiges dran, lernt das Publikum. Hoffentlich Allianz versichert!

Das Unternehmen veranstaltet zusammen mit dem Bundesfamilienministerium das zweitägige »Berliner Demografieforum 2012. Familie - Kinder - Gesellschaft«, zu dem sich allerlei Prominenz im ehemaligen Staatsratsgebäude der DDR, das jetzt die European School of Management and Technology beherbergt, eingefunden hat. Es sei das richtige Forum zum richtigen Zeitpunkt, lobt Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU), dessen Ministerium gerade eine »Gesamtstrategie« zum demografischen Wandel erarbeitet. Jetzt seien wir in der Phase, »wo wir den Sack zumachen müssen«.

Die Wandbilder im Auditorium von fröhlichen Kindern, jungen Familien und Werktätigen bei diversen Aktivitäten erinnern vor diesem Hintergrund an die vermeintlich goldene Zeit vor dem sogenannten Pillenknick. Der, so gewinnt man den Eindruck bei der Veranstaltung, hat uns all die Probleme eingebrockt. Als habe der demografische Wandel der Gesellschaft nicht viel früher eingesetzt, während die Sozialsysteme noch erheblich ausgebaut und die Arbeitszeiten verkürzt wurden.

»Die Mütter, die in den siebziger Jahren nicht geboren wurden, können heute keine Kinder bekommen«, stellt Minister Friedrich mit bestechender Logik fest, um deutlich zu machen, dass sich manche Dinge einfach nicht mehr ändern lassen. Andere sind für die meisten Teilnehmer offenbar selbstverständlich geworden: Rente mit 67, geringere Sozialleistungen, private Vorsorge (oder wahlweise Altersarmut). Konsens herrscht auch weitgehend über die Personengruppen, deren Arbeitskraft mehr als bisher für die deutsche Wirtschaft zu vernutzen ist: Jugendliche, ältere Menschen, Frauen und Migranten - allesamt gut ausgebildet und aus den »richtigen Zielländern«.

Familienministerin Kristina Schröder (CDU) sagt schöne Sätze wie: »Ich will den Menschen nicht erklären, wie sie leben wollen, sondern ihnen ermöglichen, wie sie leben wollen.« Der Weg dahin, so erfährt man, geht über die von ihr initiierten Maßnahmen: den Bundesfreiwilligendienst, die Familienpflegezeit und »meine Flexiquote«, eine geplante Selbstverpflichtung der Unternehmen für Frauen in Führungspositionen, an deren Wirkung vor allem Schröder selbst glaubt.

Renate Köcher, die Geschäftsführerin des Instituts für Demoskopie Allensbach, lässt Mitleid aufkommen mit den Politikern, die sich heutzutage vor Reformen fürchten müssten, weil die Mehrheit der Bevölkerung »richtige Entscheidungen« wie die Erhöhung des Rentenalters nicht zu schätzen wisse. Möglicherweise ahnen jedoch die vielen Befragten, dass sie spätestens mit 60 Jahren körperlich oder psychisch nicht mehr in der Lage sein werden, ihren Beruf auszuüben, oder keinen Job mehr bekommen.

Das Publikum, hauptsächlich aus Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Verbänden oder sogenannten Netzwerken, die das Wort »Familie« im Namen tragen, scheint der Minderheit anzugehören. Kritische Beiträge sind selten, und wenn, dann handelt es sich um solche, die »Lösungen« für das »Problem« der niedrigen Geburtenrate in Deutschland fordern, als ginge es um Geld für das örtliche Freilichtmuseum, oder solche, die auf bestimmte Interessen abzielen: Rabatte für kinderreiche Familien, Väterrechte. Eine Frau, die fragt, warum die Fachkräfte eigentlich nicht auch aus Afrika oder Indien kommen könnten, erhält keinen Beifall.

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