Nur ein dummer Jungenstreich?

»Nationalsozialistischer Untergrund« oder wie in Weimarer Zeiten der kommende Staatsterrorismus verkannt wurde

  • Manfred Weißbecker
  • Lesedauer: 5 Min.
Am 26. Januar 1932 versprach Adolf Hitler in einer programmatischen Rede vor 700 Industriellen, das Privateigentum zu schützen und neuen »Lebensraum« zu erobern. Seine »nationalsozialistische Bewegung« drängte, möglichst rasch die Regierungsgeschäfte zu übernehmen. Ende 1931 wurden geheime Schriftstücke publik, die am Vorabend der Reichstagswahlen, die zur Ernennung Hitlers zum Reichskanzler führen sollten, für Aufsehen sorgten - allerdings fatalerweise nicht bei den Staatsdienern. Diese sahen nur eine linke Gefahr.
Antifaschisten bezeichneten die sogenannten Boxheimer Dokumente als »Blutpläne«, enthielten sie doch die Entwürfe einer Reihe von Notverordnungen, Proklamationen und Ordnungsvorschriften, die am Tag X in Kraft treten sollten und vom kommenden Staatsterrorismus kündeten, dem zum Schein ein legales Mäntelchen verliehen werden sollte. Ihr Verfasser war Werner Best, Rechtsanwalt und Amtsrichter in Gernsheim, der zudem als Rechtsberater der NSDAP-Gauleitung in Hessen wirkte.

Offene Worte

Schon am 5. August 1931 hatte Best seine Texte führenden Nazis des Gaues Hessen-Darmstadt vorgelegt, als diese im Gasthaus »Boxheimer Hof« nahe dem hessischen Ort Lampertheim über wirtschaftliche Fragen berieten. Die Beteiligten des Treffens nahmen alles wohlwollend zur Kenntnis. Daraufhin sandte Best seine Ausarbeitungen am 6. September an die Reichsleitung der NSDAP in München, im Begleitschreiben wurden sie von ihm großspurig als »Grundlage und Kernstück der theoretischen und geistigen Vorbereitung eines Aufstandes der NSDAP« bezeichnet.

Die Schriftstücke boten einen entlarvenden, weil authentischen Aufschluss über das Regime, das die Nazis nach der Übernahme der Staatsmacht in Deutschland errichten wollten. An der Spitze der Dokumente stand eine Präambel mit dem unverkennbar von Putschabsichten zeugenden Titel: »Bekanntmachung unserer Führung nach dem Wegfall der seitherigen obersten Staatsbehörden und nach Überwindung der Kommune«. Dem folgte eine »Proklamation«, die außerordentlich Maßnahmen von »SA und Landwehren« ankündigten: »Schärfstes Durchgreifen der bewaffneten Macht« sei nötig, um Ordnung und Volksernährung aufrechterhalten zu können: »Widerstand wird grundsätzlich mit dem Tode bestraft«, Waffenbesitz durch Erschießen auf der Stelle geahndet, Streikende in öffentlichen Betrieben und Dienststellen werden füsiliert. Auf schwere Verstöße gegen noch zu erlassende Notverordnungen folge die Todesstrafe. Einzelne »Richtlinien« bestimmten u.a. die »Einrichtung von Feldgerichten«.

Eine blinde Justiz

Das alles entsprach ernsthaften Überlegungen innerhalb der NSDAP, vor allem in der SA. »Legal sind wir nur, solange wir müssen, keine Minute länger«, war das Credo. Hitler betonte zwar auch in einer Rede vor den SA-Gruppenführern, die Partei müsse »auf dem legalen Wege bleiben, der überhaupt augenblicklich der einzige sichere« sei. Doch allein die zeitliche Einschränkung ließ auch die andere »unsichere« Variante erkennen: Falls die Unruhen »kommunistischer Art« seien und die Regierung derer nicht selbst Herr werde, müsse man ihr »beispringen«, sich aber nicht damit begnügen, für diese »die Kastanien aus dem Feuer« zu holen.

Nunmehr bewiesen authentische Unterlagen der Öffentlichkeit das Gegenteil aller Legalitätsbekundungen der Nazis. Deren Führung geriet in Not, und wieder kannte sie nur ein Rezept: lügen, täuschen, verharmlosen. Es hieß, da habe einer einen »dummen Jungenstreich« verübt, aus purer Wichtigtuerei heraus gehandelt. Rudolf Heß warf Best »Großmannssucht« vor und »zügellosen Drang, in der Öffentlichkeit eine Rolle zu spielen.« Goebbels sprach von »viel Lärm um Nichts«. Hermann Göring marschierte am 26. November zum Reichswehr- und Innenminister mit der verlogenen Erklärung, die Münchener Zen-trale habe erst durch die Presse von Existenz und Inhalt der Dokumente Kenntnis erhalten. Sie betrachte die Papiere als Privatarbeit, und man werde »gegen jeden, der nicht die Weisung der Legalität befolgt hat, rücksichtslos vorgehen und ihn aus der Partei ausschließen.« Am 12. Dezember ließ er dies auch den Reichspräsidenten wissen. Auch die hessischen Nazis sprachen von der Aktion eines Provokateurs, der »den Führer meineidig« machen wolle, hatte der doch im Herbst 1930 vor dem Leipziger Reichsgericht einen strikten Legalitätskurs seiner Partei beteuert.

Den zuständigen Reichsbehörden reichten solche Beteuerungen aus. Sie reagierten lasch. Mehr noch: Als gegen Best und die übrigen Teilnehmer des Boxheimer Treffens ein Untersuchungsverfahren eingeleitet wurde, beauftragte die Justiz ausgerechnet jenen Anwalt, der seinerzeit die skandalösen Untersuchungen zu den Morden an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht geleitet hatte. Oberreichsanwalt Karl August Werner lehnte es ab, den Vorwurf des Hochverrats zu erheben. In einem Interview erklärte er, bei den beschlagnahmten Schriftstücken handele es sich nur um die Darstellung von Maßnahmen, die sich nicht gegen die Regierung« richten würden. Mit der Begründung, die genannten Maßnahmen hätten doch nur einem »kommunistischen Revolutionsregime« gegolten, erfolgte 1932 die Einstellung des Ermittlungsverfahrens. Während Mitglieder der KPD, der SPD, des Reichsbanners, der freien Gewerkschaften und auch konsequente Demokraten bürgerlicher Herkunft und Haltung mit aller Gesetzesschärfe verfolgt wurden, erblindeten Richter und Staatsanwälte zusehends auf ihrem rechten Auge.

Auch Reichskanzler Brüning wünschte keine Auseinandersetzung darüber, ob die Tätigkeit und die Ziele der NSDAP als legal oder als illegal zu betrachten seien, erwog doch seine Partei, das großbürgerlich-katholische Zentrum, ähnlich wie die Deutschnationale Volkspartei, sich mit Hitler zu arrangieren, sei es bei der Vorbereitung einer schwarz-braunen Koalition nach den Landtagswahlen in Hessen oder auch im Hinblick auf die Wahl des Reichspräsidenten 1932. Da wollte natürlich der nahe liegende Gedanke, die Nazibewegung müsse als verfassungswidrig aufgelöst und ihre Organisationen zerschlagen werden, nicht aufkommen.

Die Namen zweier NSDAP-Mitglieder standen hauptsächlich für den Skandal: Werner Best und Wilhelm Schäfer. Von ersterem stammten die »Boxheimer Dokumente«, letzterer hatte sie am 18. oder 19. November 1931 der Polizei übermittelt. Gegen Best verlief sowohl auf staatlicher Ebene als auch in der NSDAP alles im Sande; seiner Karriere nach dem 30. Januar 1933 stand nichts im Wege: Rasch wurde er zum Staatskommissar für das Polizeiwesen und Landespolizeipräsidenten in Hessen ernannt. 1935 wechselte er nach Berlin. Sein neues Amt: Oberster Rechtsberater der Gestapo. Als Mitarbeiter Reinhard Heydrichs beteiligte er sich am Auf- und Ausbau des SS-Sicherheitsdienstes. Seit November 1942 regierte er als Reichsbevollmächtigter im besetzten Dänemark.

Der falsche Doktor

Die »Karriere« des anderen Nazis endete bereits am 18. November 1931. Er war für die NSDAP als ihr Kreisleiter in Offenburg und als Landtagsabgeordneter untragbar geworden, nachdem zu erfahren war, dass er seinen Doktortitel zu Unrecht trug und einige Vorstrafen verschwiegen hatte. Seine Kumpane, allen voran der designierte Landtagsfraktionsvorsitzende Best, zwangen ihn zum Rücktritt. Darauf war er, entrüstet und rachsüchtig, mit den brisanten Unterlagen zur Polizei gegangen. In der Nacht zum 17. Juli 1933 endete sein Leben im Frankfurter Stadtwald durch vier Revolverschüsse als »Verräter« - ein Verbrechen ganz im Sinne der »Boxheimer Dokumente«.

Von Jenenser Faschismusforscher Professor Weißbecker erschien jüngst im Kölner PapyRossa Verlag »Das Firmenschild: Nationaler Sozialismus: Der deutsche Faschismus und seine Partei 1919 bis 1945 (218 S., br., 14,90 €).

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