Der andere Stellvertreter

Der Regisseur Christian Stückl über Rolf Hochhuths Urstück der Papstanklage und die Kraft, die aus der Schwäche wächst

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Das Foto zeigt Fritz Cremers Bronzeplastik »Auferstehender« von 1982/83. Die Skulptur steht vor der Ruine der Franziskaner-Klosterkirche in Berlin.
Das Foto zeigt Fritz Cremers Bronzeplastik »Auferstehender« von 1982/83. Die Skulptur steht vor der Ruine der Franziskaner-Klosterkirche in Berlin.


nd: Herr Stückl, die FAZ hat Rolf Hochhuths »Stellvertreter« einmal als das »umstrittenste Schauspiel« des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Warum wollen Sie mit Ihrer Inszenierung am Münchner Volkstheater gerade jetzt Teil und Akteur dieses Streits werden?
Stückl: Zunächst war es banaler Zufall. Im vorigen Jahr inszenierte ich in Hamburg Hans Pfitzners Oper »Palestrina« - übrigens auch ein Werk mit katholisch-historischem Kontext. In einer Buchhandlung sah ich den »Stellvertreter« liegen, den ich bis dahin noch nie komplett gelesen hatte. Ich kaufte das Buch, las es und fand es erst einmal ziemlich schwierig aufgrund des komplexen Insider- und Hintergrundwissens, das Hochhuth da hineingepackt hat. Zugleich reizte mich die Inszenierung eines Stücks, dass seit fast fünfzig Jahren für hitzige Debatten sorgt. Immerhin begann erst mit diesem »christlichen Trauerspiel«, wie Hochhuth es nannte, 18 Jahre nach Kriegsende die Auseinandersetzung um die Rolle des Vatikans im Zweiten Weltkrieg.

Ihr Name ist seit über 20 Jahren mit den Oberammergauer Passionsspielen verbunden. Bereits dreimal haben Sie dieses Urstück christlicher Tradition und Erbauung inszeniert. »Der Stellvertreter« hingegen ist sozusagen das moderne Urstück skandalisierender Kritik an der höchsten Instanz der katholischen Weltkirche. Wie passt das zusammen?
Seit ich 1987 zum Spielleiter in Oberammergau gewählt wurde, beschäftigt mich der Antijudaismus, der Christentum und Kirche über Jahrhunderte begleitet und belastet. Und der auch bis in die jüngste Zeit in unserem Passionsspiel steckte. Hitler hat nach einem Besuch der Passionsspiele 1934 erklärt, kaum je sei die jüdische Gefahr am Beispiel des römischen Weltreichs so plastisch veranschaulicht worden wie in der Darstellung des Pontius Pilatus. Meine zahlreichen Gespräche mit christlichen Theologen, mit jüdischen Organisationen, mit der Anti-Defamation League haben mir gezeigt, wie Antijudaismus und Antisemitismus bis heute in der Gesellschaft präsent sind - offen und grobschlächtig, aber auch latent und subtil. Der Skandal um die Pius-Bruderschaft und den Holocaustleugner Bischof Richard Williamson, die Kritik an der Wiedereinführung der Judenfürbitte durch Papst Benedikt XVI. belegen, wie schwer die katholische Kirche weiter an diesem unseligen Erbe trägt. Insofern ist ein radikales Stück wie »Der Stellvertreter« hochaktuell und eine Ergänzung meiner Oberammergauer Arbeit. Auch bei Hochhuth geht es um Passion - um Leid und Tod. Von Einzelnen und von Millionen.

Vor ein paar Monaten hätte Ihre Inszenierung wohl erhebliches Störpotenzial besessen - mit Blick auf den Deutschlandbesuch des amtierenden »Stellvertreters«. Benedikt XVI. betreibt ja mit Hochdruck die Seligsprechung von Pius XII. Hochhuth stellt diesen Papst aufgrund seines Schweigens als Mitschuldigen an der Judenvernichtung dar. Eine Aufführung des Stücks ist mithin eine Wortmeldung in dieser Debatte.
Die umgehend registriert wurde. Als nach unserer Ankündigungspressekonferenz die Medien über die geplante Inszenierung berichteten, war auch Radio Vatikan dabei. Was ja sonst nicht unbedingt zu erwarten ist.

Hochhuth verfolgte mit dem »Stellvertreter« nicht nur künstlerische Ambitionen, sondern erhob und erhebt Anspruch auf geschichtliche Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Was von der katholischen Kirche bestritten wird. Sehen Sie diesen Anspruch als gerechtfertigt an?
Das Stück hat seinerzeit eine notwendige Debatte losgetreten. Das bleibt, ungeachtet aller Relativierungen, die die Person Pius XII. aufgrund neuer historischer Erkenntnisse erfahren mag. Aber es ist ein Theaterstück, nicht die Verkündigung einer unumstößlichen Wahrheit. »Was ist Wahrheit?« war nicht nur die berühmte Pilatus-Frage, sondern ist auch die zentrale Frage in der Debatte um Pius und den Holocaust. Dass überhaupt an die Suche nach dieser Wahrheit gegangen wurde, ist nicht zuletzt Hochhuths Verdienst. Erwin Piscator, der 1963 in Westberlin die Uraufführung inszenierte, bemerkte treffend: »Dokumentarisches und Künstlerisches sind untrennbar ineinander übergegangen.« Dieses Untrennbare, das sich exemplarisch bei Shakespeare oder Schiller findet, weist ein echtes Kunstwerk aus. Deutlich wird das an zwei Hauptpersonen: Während die Figur des Jesuitenpaters Riccardo Fontana erfunden ist, hat die Gestalt des SS-Obersturmführers Kurt Gerstein ein reales historisches Pendant, sie wird aber im Stück in erfundene Situationen gestellt.

Hochhuth ging es vor allem um den Papst, der eine öffentliche Verurteilung des Hitlerregimes wegen der Judendeportationen verweigerte. Eine Intervention, die möglicherweise Tausende Leben gerettet hätte. Diese übergeordnete Wahrheit ist ja sozusagen die Matrix der künstlerischen Umsetzung des Themas.
Dieser Vorwurf durchzieht das gesamte Stück. Das ist richtig. Richtig ist auch, dass Pius XII. in seinem direkten Einflussbereich eine Menge ermöglichte und erlaubte, um vielen Juden das Leben zu retten. Was übrigens Hochhuth nie bestritt. Aber es bleibt der Vorwurf, als oberster Führer der katholischen Weltkirche, im Anspruch als »Stellvertreter Christi« nicht öffentlich und vernehmlich die Stimme gegen dieses Menschheitsinferno erhoben zu haben. Nie das Wort »Juden« in seinen Ansprachen und Hirtenbriefen auch nur ausgesprochen zu haben. Was passiert wäre, wenn er das getan hätte, ist allerdings Spekulation. Hätte es den Verfolgten genützt oder gar jene, die bislang noch verschont blieben, in den Abgrund gerissen? Darum geht ja bis heute der Streit zwischen Pius-Anhängern und -Kritikern.

Eine Frage, die ein Theaterstück nicht abschließend beantworten kann.
Eben. Es kann - das ist sehr viel - eine Diskussionsgrundlage sein. Das ist auch das Anliegen unserer jetzigen Inszenierung. Wir haben deshalb versucht, gegenüber diesen direkten und definitiven Verurteilungen des Vatikans, dieser unerbittlichen Kampfansage gegen den Papst andere Aspekte des Stücks stärker zu betonen.

Um den Hauptvorwurf zu entschärfen?
Nein. Die Diskussionen über den Holocaust müssen weiter nach allen Seiten geführt werden, und da ist und bleibt die Frage nach der Rolle der Kirchen, auch der evangelischen, eine zentrale. Hitlers Antisemitismus speiste sich nicht zuletzt aus den Agenzien, die ihm der christliche Antijudaismus lieferte. Aber das Stück hat eine über die Papstkritik weit hinaus gehende politische Aktualität.

Und diese Aktualität finden Sie nicht bei Pius XII.?
Die spannendste Figur ist für mich der Jesuitenpater Riccardo Fontana, bei dem sich Züge des in Auschwitz ermordeten polnischen Franziskaners Maximilian Kolbe finden. Da kämpft ein Mensch in einer Zeit und an einem Ort größter Verrohung und Menschenverachtung bis zur letzten Konsequenz für seine christlichen Ideen, für sein humanistisches Menschenbild. Dieser Mann, der sich aus wahrhafter Nächstenliebe den Judenstern an den Talar heftet und auf den Transport in das Vernichtungslager geht - dieser Mann ist für mich der eigentliche Stellvertreter. Denn er gibt auf seine Weise eine Antwort auf die immer wieder und auch im Hochhuth-Stück gestellte Frage: Wo war Gott an diesem Ort der Verdammnis? Und wo war die Kirche? Riccardos Verhalten ist exemplarisch für die Prüfungen, die die Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden allen auferlegte, die darum wussten. Prüfungen, gegen die sich Herausforderungen der heutigen Zivilgesellschaft geradezu banal ausnehmen. Und trotzdem scheitern wir oft bereits an diesen.

Hochhuth hat Riccardo als moralische Gegenfigur zu Pius XII. mit extrem überhöhten idealistischen Zügen versehen.
Wir haben bei den Proben gemerkt, wie schwierig es ist, diese Person so auf die Bühne zu bringen, dass sie nicht eitel wirkt oder der Zuschauer sie nicht als fern von dieser Welt, als welt-fremd empfindet. Es ist in der Tat eine Ideal-Figur, die an Schillersche Dramen erinnert. Gerade das aber macht sie, im besten Fall, auch zu einer idealen Identifikationsfigur: Ein Mensch, der die große Idee von einer besseren Welt hochhält - und sei es in der Hölle.

Wenn ich Sie richtig verstehe, haben Sie aus Hochhuths Stück, das ja aufgrund seiner Länge für eine Aufführung ohnehin gekürzt werden muss, die Figur Riccardos herausgehoben. Im Mittelpunkt steht also nicht, wie es die Intention des Autors war, das Schweigen des Papstes?
Was Riccardo Fontana zum Handeln treibt, ist das Schweigen des Papstes. Dieses Schweigen können und wollen wir nicht aus dem Stück nehmen. Es bleibt das zentrale Moment und das Handeln Riccardos ist ohne diesen Hintergrund nicht denkbar, auch wenn die Inszenierung ganz stark auf seine Figur ausgerichtet ist. Sozusagen auf den anderen, den alternativen Stellvertreter.

Es gab von der Uraufführung 1963 bis in die jüngste Vergangenheit Versuche, Aufführungen zu verhindern. Ist das auch diesmal der Fall?
Bislang war es ruhig. Warten wir die Premiere am Mittwoch ab. Sicher hat der eine oder andere Schwierigkeiten mit dem Stück. Es gibt Irritationen, aber ebenso gespannte Erwartungen, was ich daraus mache und wie weit ich gehe. Vielen gelte ich irgendwie als Fachmann für das Katholische. Manche fragen da, wieso ich mich jetzt mit der Kirche anlege. Aber mir geht es nicht darum, mich in die Debatte zur Seligsprechung von Pius XII. einzumischen. Das überlasse ich Rom. Mir geht es um ein Thema, das auch die Passion Christi prägt: Wie aus Schwäche und Ohnmacht Kraft und moralische Macht erwachsen.

Interview: Ingolf Bossenz



»Der Stellvertreter« von Rolf Hochhuth (geboren 1931) setzt sich mit der Haltung von Papst Pius XII. zur Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden durch das Hitlerregime in der Zeit des Zweiten Weltkriegs auseinander. Der Uraufführung am 20. Februar 1963 in Westberlin (Regie: Erwin Piscator) folgten Inszenierungen in über 25 Ländern sowie nationale und internationale Kontroversen. Die Frage, warum Pius XII. keinen öffentlichen Protest gegen Deportationen und Holocaust erhob, bestimmt bis heute die Debatte um diesen Pontifex. 2002 verfilmte der griechisch-französische Regisseur Constantin Costa-Gavras Hochhuths »christliches Trauerspiel«.

Stückl wurde 1961 im oberbayerischen Oberammergau geboren, wo er 1981-84 eine Lehre als Holzbildhauer absolvierte und ab 1981 eine Theatergruppe aufbaute. 1987 wurde er Regieassistent an den Münchner Kammerspielen und im selben Jahr zum Spielleiter der Oberammergauer Passionsspiele 1990 gewählt (Wiederwahl 1996 und 2005). Er wirkte als Gastregisseur unter anderem in Wien, Bonn, Karlsruhe, Hannover und Mysore (Indien). Stückl ist der Regisseur der aktuellen Inszenierung von Hofmannsthals »Jedermann«, die seit einigen Jahren die Salzburger Festspiele eröffnet. In Köln erarbeitete er Ludwig van Beethovens »Fidelio«. 2006 gestaltete er im Auftrag des österreichischen Aktionskünstlers André Heller die Eröffnungsfeier der Fußball-Weltmeisterschaft in München.
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