Ziegen und weißer Fleck

Romuald Karmakar: »Angriff auf die Demokratie«

  • Ralf Schenk
  • Lesedauer: 4 Min.

Der Hintergrund ist ganz in Schwarz gehalten. Davor ein Mikrofon, an das im Laufe des Films zehn Frauen und Männer treten werden. Kein zusätzlich einmontiertes dokumentarisches Material, kein überflüssiger Schwenk, kaum Gegenschnitte auf das Publikum in Saal. Der Zuschauer soll sich ganz auf das gesprochene Wort konzen-trieren, die Argumente der Redner auf sich wirken lassen. Es geht ja auch ums Ganze: um den politischen und moralischen Zustand unseres Gemeinwesens, um Europa und um jeden Einzelnen.

»Angriff auf die Demokratie - eine Intervention« (Berlinale Special) lautet der Titel des Films, den Regisseur Romuald Karmakar listig als »found footage« bezeichnet, als gefundenes Material. Fundort war das Haus der Kulturen der Welt, Fundzeit der 18. Dezember vergangenen Jahres. Vor einem hoch konzen-trierten Auditorium äußern Journalisten, Künstler, Wissenschaftler ihr Unbehagen über das, was derzeit mit uns geschieht. Ausgangspunkt ist die Finanzkrise, die nach einem schon Jahre andauernden wirtschaftlichen Ausnahmezustand längst in eine veritable Demokratiekrise mündet. Die vermeintliche »Rettung« des Euro hat Vorrang vor politischen Visionen und Institutionen. Die verräterische Metapher »Rettungsschirm«, unter den vor allem die Banken kriechen, kaschiert bloß noch dürftig, dass jungen Leuten, Arbeitslosen, Geringverdienern, Rentnern das Wasser bis zum Hals steht. Wir haben zu lange zugeschaut, sagt die Publizistin Carolin Ehmcke, eine der Organisatorinnen der Debatte, zu Beginn des Films, und: Die Reduzierung Europas auf ein Europa der Märkte sei nicht alternativlos. »Wir brauchen neue Rezepte für Gerechtigkeit, Freiheit und Solidarität. Für ein Europa, das zu retten sich lohnt.«

Romuald Karmakar hat schon mehrere Filme gedreht, in denen dem Wort eine überragende Bedeutung zukam: »Das Himmler-Projekt« (2000) beispielsweise oder »Hamburger Lektionen« (2006). In beiden Fällen ließ er authentische Reden, einmal von einem NS-Führer, einmal von einem in Deutschland lebenden Hassprediger, durch den Schauspieler Manfred Zapatka nachsprechen. Der legte den Kern der Reden und die Strukturen der damit verbundenen antihumanen Denkungsart frei, ohne jede atmosphärisch aufgeladene Beigabe. Die Filme verunsicherten, entlarvten und erschütterten; wer sich auf sie einließ, hatte viel über die unheilige Korrespondenz von Rhetorik und Demagogie gelernt.

Der neue Film, von ähnlich reduktionistischer Form, ist eine Art Gegenentwurf: Es vereint sich Rhetorik mit Aufklärung, präziser Bestandsaufnahme, geistvollem Zorn, freien Argumenten für ein neues Denken - gegen die Ohnmacht, die uns einzuholen droht.

Die Journalistin Franziska Augstein konstatiert, dass »Politiker verantwortlich für das Gemeinwohl, nicht für das Finanzwohl« seien. Der Architekt und Designtheoretiker Friedrich von Borries: Politiker sind Bestandteile der Produktwelt, wenn auch nicht durchweg gut gestaltet. »Vielmehr haben wir es mit schlechtem Design zu tun.« Historiker und Redakteur Nils Minkmar: Der Kapitalismus hat sich in eine permanente Krise verwandelt und kassiert damit Milliardengewinne. »Es ist nie so, wie man’s uns erzählt. Immer nachfragen. Alles könnte anders sein.«

Der Schriftsteller Ingo Schulze konstatiert eine »postdemokratische Situation«: Alles Heil werde vom Wachstum erwartet. Die soziale und ökonomische Polarisation der Gesellschaft sei unter anderem auch daran erfahrbar, dass »in besseren Vierteln von Berlin die wenigen unsanierten Häuser in aller Regel Schulen, Kindergärten, Altersheime, Ämter, Schwimmbäder oder Krankenhäuser sind«.

Der Sozialpsychologe Harald Welzer betont, dass eine Haltung des Wissens und des zugleich Unzuständigseins nicht mehr haltbar sei, und bringt damit Symposium und Film auf den Punkt. In einer Zeit, in der die Probleme mit dem Euro dazu benutzt würden, unter einem nicht zu verantwortenden Zeitdruck »fundamentale rechtsstaatliche und demokratische Prinzipien auszuhebeln«, sei es dringend notwendig, dass Politiker, Soziologen, Historiker der großen deutschen Universitäten ihr Schweigen zu aktuellen Problemen aufgäben. Schluss mit der Haltung der Unzuständigkeit, der »Entleerung der politischen Öffentlichkeit«!

Dagegen die Aufforderung an die »Deutungseliten«, ihrer Verantwortung nachzukommen. Roger Willemsen schließlich mahnt an, gegen die »Duldungsstarre der Gesellschaft« wieder »Kompetenz für unser Leben anzumelden«. Er beschwört Individualität gegen Entsolidarisierung, gegen universelle Ökonomisierung, gegen die Marktwerdung von allem, was uns umgibt: Es dürfe nicht sein, dass nur noch am Parameter des ökonomischen Gewinns bestimmt werde, was uns interessieren soll. Willemsen will Impulse der Notwehr setzen, mit Formen der Intervention, die nicht mehr in den bereitstehenden Mustern verharrt: »Das System muss in Grundlagen und in Logik seines Handelns verändert werden ...«

Als Intermezzo zwischen den kompakten Zustandsbeschreibungen baut Karmakar einen eigenen Kurzfilm ein. Sechseinhalb Minuten lang, eine einzige Einstellung, eine Satire mit dem schönen Titel »Ralph N. Elliott entdeckte, dass die Bewegung der Märkte allein durch das psychische Verhalten der Marktteilnehmer wiedergegeben wird«. Zu sehen: Ziegen auf einer Weide, ein kreisrundes Stück leer gefressen. Die Ziegen ziehen weiter, der leere Fleck bleibt.

Karmakars Film, von 3sat koproduziert, konserviert die Analysen und Visionen des Symposiums für die Zukunft. Noch unklar ist allerdings, ob der Zündfunke der Debatte tatsächlich auf unsere Gesellschaft überspringt, das Symposium also als eine Art Gründungsakt einer neuen Gemeinschaft des freien Geistes gefeiert werden wird - oder doch nur als kurze Erhebung des zur Faust geballten Intellekts in einem Meer des alltäglichen politisch-pragmatischen Aktivismus.

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