Der HASS

Am Sonntag vor 175 Jahren starb im Schweizer Exil der deutsche Dichter Georg Büchner

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.
Jens Harzer
Jens Harzer

In dem Gegensatz zwischen Armen und Reichen, zwischen dem Volk und den Vornehmen liegt für Georg Büchner »das einzige revolutionäre Element der Welt«. Weil in Hessen kein Industrieproletariat existiert, setzt er seine Hoffnungen in die Bauern, weiß aber das Gesetz der gemeinen Seele: »Mästen Sie die Bauern, und die Revolution bekommt die Apoplexie. Ein Huhn im Topf jedes Bauern macht den gallischen Hahn verenden.«

So schreibt er 1835 an Karl Gutzkow. Sarkastischer Witz und abgrundtiefe Schwermut zugleich. Resignation freilich ist nicht zu erkennen, denn Resignation reckt zum gesenkten Blick nicht - wie Büchner es tut - die Fäuste zum Himmel; immer sucht er, unumkehrbar entflammt, nach Argumenten für den notwendigen Kampf wider die Mächtigen.

Er sucht und wünscht sich andererseits Ruhe. Denn ist nicht ein Narr, wer da glaubt, mehr zu sein als der Schaum auf der Welle? Ein Träumer, der mehr werden will als nur Marionette am unsichtbaren Faden? Ein Fantast, wer meint, in dieser Welt etwas ausrichten zu können durch die Tat? »Wir haben nicht die Revolution, die Revolution hat uns gemacht«, so weiß Danton, der sich der öffentlichen Rolle, der »Nationalkühnheit«, entledigt, und fortan »Privatkühnheit« bevorzugt. Privatkühnheit, dies Recht auf eigene Gedanken jenseits einer dogmatischen Lehre.

Der Himmel »ein dummes blaues Aug« (»Lenz«), Sonne und Mond nur »ein verreckt Sonnenblum« und »ein Stück faul Holz« (»Woyzeck«), die Welt in Wahrheit ein Chaos, Spielball lächerlicher Göttergestalten, die sich die Bewohner der Erde wie Zierfische halten und sich einen Spaß daraus machen, jenem absurden Treiben zuzuschauen, das dem Menschen als Leben gilt. »Die Erde und das Wasser da unten sind wie ein Tisch, auf dem Wein verschüttet ist, und wir liegen darauf wie Spielkarten, mit denen Gott und Teufel aus Langeweile eine Partie machen« (»Leonce und Lena«).

In einem Büchner-Essay schreibt Rudi Dutschke vom 1968 heiß aufgenommenen Büchner-Fanal »Friede den Hütten! Krieg den Palästen!« Aber kaum tiefer sei man links ins Werk eingedrungen. »In einer Zeit der wachsenden sozialen Bewegung die erste Niederlage bereits durchreflektieren müssen? Sich anders als ideologisch mit dem Wesen des Menschen befassen? Das war offensichtlich zu viel verlangt.« Nichts schädlicher für die Revolution als ein reflektierter, zweifelnder Revolutionär - meinte nach der »Revolutionsfeier« vom November 1918 im Münchner Nationaltheater schon Thomas Mann, »ich bin neugierig, wie man mit der Skepsis in ›Dantons Tod‹ fertig wird. Es wird im revolutionären Sinne gestrichen werden.«

Büchner, an Gehirnkrankheit im Schweizer Exil gestorben, war Revolutionär - und daran Leidender, er war Sozialist - ohne dogmatische Gabe, er war Anarchist - mit feinsten Regungen. Er stand Nietzsche so nah wie den Gedanken von Marx und Engels. Ein Sohn aus bestem Hause, der auf die Barrikade wie auf eine Bühne kletterte, scharf pamphletisch. Aber aus der Kulisse ruft er sich auch selber das zu, womit Danton mit Robespierre ins Gericht ging: »Ist denn nichts in dir, was dir nicht manchmal ganz leise, heimlich sagte, du lügst, du lügst!«

Dank seiner tragischen Kürze blieb diesem Dichterleben die frühe Vergreisung der Platen und Grabbe, die langsame Verwitterung der Grillparzer und Mörike, das Elend eines Hölderlin-Schicksals erspart - überblickt man diese nur dreiundzwanzig Jahre, so stehen bereits im frühesten Jugendalter reifste Erkenntnisse vibrierend hinter der Stirn - Erkenntnisse über die Zeit und das zeitlose Irren des Menschen zugleich. Auf schwang sich unter Napoleons Herrschaft das deutsche Selbstempfinden, aber Nationalgefühl und Freiheitssehnsucht fanden in Deutschland nie zusammen. Christa Wolf über »Dantons Tod«: »Büchner ist der erste deutsche Dichter nicht (und nicht der letzte), der einen fremden Stoff bearbeiten muss, um entwickelte gesellschaftliche Kräfte in einem Drama gegeneinander ins Feld führen zu können.«

Heiner Müller nannte den »Woyzeck« die blutende deutsche Wunde, und wenn es in den letzten Jahren eine Inszenierung gab mit einem gegenwartsstechenden, extrem aufrührerischen Geist, so war es Michael Thalheimers »Woyzeck« (Salzburg, Thalia Hamburg). Das war ein Vorschlag, wie Büchner derzeit zu denken sei.

Peter Moltzens sehr heutiger Woyzeck, weißes Hemd über schwarzer Hose, steht inmitten einer kalt glänzenden Metallzelle (Bühne: Olaf Altmann). Steht und steht. Schaut ins Publikum. Wirft einen Blutbeutel an die Rückwand: »Der Mond, ein blutig' Eisen«. Woyzeck beobachtet (oder halluziniert!) die verrenkte Welt, die an ihm vorüberzieht. Das Provokative dieser Arbeit: Nicht nur Marie stirbt - Woyzeck mordet alle.

Büchners erschütterndste Figur ist hier nicht das unschuldige soziale Opfer, an dem unser Mitgefühl sich so intensiv bestätigen darf. Ein Woyzeck, wie es ihn noch nie gab: Der Gedemütigte wandelt alle Ungeliebtheit, allen Hohn, die ihn treffen, in Aggressivität um - die ihn zum Herrn just jener Verhältnisse macht, deren Objekt er doch ist. Der Ausgestoßene wird von den Bürgern gehasst - er gibt den Grund für Hass bereitwillig vor. Das ist das letztmögliche revolutionäre Selbstbewusstsein. Damit entwirft Thalheimer das Porträt einer sehr gegenwärtigen Ordnung: in der alle Lebenslust so verhängnisvoll eng an Vernichtungslust gebunden ist und die gebotene Befreiung von Feindbildern doch nicht die Sehnsucht nach ihnen abtöten kann. Eine Ordnung, in der auch jene Gewalt, zu der die Ausgebeuteten zu greifen gezwungen sind, ihren unantastbaren moralischen Kredit verlor - obwohl man zugleich Verständnis behält für diese Gewalt. Woyzeck, der Fundamentalist, der Amokläufer, der Attentäter - weil sie arm sind, sind die Woyzecks nicht die besseren Menschen.

Thalheimer, Regisseur am Ende der Utopien: In seiner mörderischen Selbstbefreiung ist Woyzeck ein gefährlicher Stilist des bewusst losstürmenden Außenseitertums, das sich nicht mehr pur über soziale Ansätze definieren lässt. Woyzeck verändert die Welt, indem er sie vernichtet. Er gewinnt im Morden eine Welt zurück, die zwar wertlos, aber ihm die einzig mögliche ist. Das Messer springt geradezu sanft an Kehlen, ein Genick bricht, Umarmungen sind der sichere Erstickungstod. Am Ende »still, alles still«.

So lebt er, dieser akute Dichter Georg Büchner.

Berühmte Woyzecks: Ekkehard Schall (nicht im Bild), Klaus Kinski...
Berühmte Woyzecks: Ekkehard Schall (nicht im Bild), Klaus Kinski...
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