Verschlungene Wege

René Halketts Buch »Der liebe Unhold«: Ein unbekanntes Zeugnis der Exilliteratur

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 6 Min.
Adelsspross und Abenteurer – den es umhertreibt, immer weiter weg von den Wurzeln ... René Halkett
Adelsspross und Abenteurer – den es umhertreibt, immer weiter weg von den Wurzeln ... René Halkett

Es ist alles noch wie einst. Die Zeit steht still. Wenigstens im ruhigen Weimar, wo dieselben Familien den Ton angeben wie in den Tagen Goethes, wo sich der Großherzog in prachtvoller Livreé vor den Untertanen spreizt, die prunkvolle, nur dekorativen Zwecken dienende Schlosswache aufmarschiert, wo die Damen in die Knie sinken, wenn ihnen eine Hoheit begegnet, der Klatsch blüht und die ganze Stadt irgendwie aussieht, als sei sie eine Bühnenkulisse. Im Hoftheater wäre beinahe auch ein halbwüchsiger Adelsspross in einem japanischen Stück aufgetreten, sogar in einer Doppelrolle, doch die Mutter verhindert es in letzter Minute, weil sie meint, der Junge hätte sich erst einmal um seine Schulaufgaben zu kümmern. Der Junge, geboren im Februar 1900, ist Albrecht Georg Friedrich Freiherr von Fritsch, aber er wird sich mit 29 Jahren einen Künstlernamen zulegen und fortan als Georg Halkett, im englischen Exil dann als René George Halkett leben.

Er war neununddreißig, als er in London ein Buch veröffentlichte (»The Dear Monster«), die Geschichte seines abenteuerlichen Lebens, ein erstaunliches Zeitporträt, das freundliche Aufnahme fand, Kritiker zumal, die große Zustimmung bekundeten. Nach Deutschland jedoch kam es nie, und wir wüssten von diesem René Halkett noch immer nichts, wenn sein Name nicht zufällig vor vielen Jahren in einem Gespräch gefallen wäre, an dem Thomas B. Schumann beteiligt war. Der ist Spezialist für Exilliteratur, Spurensucher und Entdecker, ein Mann, der sich mit Haut und Haar einer Leidenschaft verschrieben hat: der Sammlung und Verbreitung von Werken, die, entstanden in der Emigration, verschollen und vergessen sind. Er hat nach einer Begegnung mit Katia Mann früh angefangen, sich für diese Literatur zu interessieren, ist herumgefahren, um die noch Lebenden zu befragen, Hermann Kesten, Armin T. Wegner, Robert Neumann, hat auf Vergnügungen verzichtet, das bisschen Geld, das er hatte, für Buchkäufe zusammengehalten und seine Zeit damit verbracht, die unbekannten, verstreuten, ignorierten Publikationen der einst Vertriebenen aufzuspüren und sie unterm Dach seines Domizils in Hürth zu versammeln. Inzwischen umfasst seine einzigartige Bibliothek 40 000 Bände. Seit 1994 ist sie das Reservoir, aus dem sein Ein-Mann-Verlag, die Edition Memoria, schöpft.

René Halkett (der 1983 starb) fehlte. Den kannte er nicht. Aber Schumann, sofort elektrisiert, gab nun keine Ruhe, er forschte nach der englischen Ausgabe von 1939, fand dann in Ursula C. Klimmer, die als Studentin mit dem Autor befreundet war, auch noch eine ideale und hingebungsvolle Übersetzerin, und nun ist das Buch endlich auch in Deutschland angekommen. Es ist der Bericht eines erstaunlichen Mannes, der, unterworfen den Regeln der aristokratischen Gesellschaft und vom Vater in eine Kadettenanstalt gesteckt, früh schon ein Unbehagen spürt, schließlich ausbricht, die vorgezeichnete Bahn verlässt und auf verschlungenen Pfaden nach seiner Bestimmung sucht.

Dass nicht alle so leben wie er, merkt er, wenn er, ein Kind noch, im Wald auf eine Gruppe Jugendlicher stößt, die in ihren Zelten haust, alle salopp gekleidet, ohne Kopfbedeckungen, die Kragen offen und die Beine nackt, unfassbar für einen, der sich einer strengen Kleiderordnung zu unterwerfen hat. Er ist unverhofft auf Wandervögel gestoßen und entwickelt gleich tiefe Sympathien für so viel Ungezwungenheit und legere Lebensverhältnisse. Später, wenn er als Freiwilliger an der Front in Flandern und Frankreich seine Haut zu Markte trägt, wird er sie wiederfinden, nunmehr erwachsen und in Uniform, aber noch immer jung, begeistert und faszinierend in ihrem Gemeinschaftsgefühl: Wandervögel, die in jedem Fremden einen Freund und Bruder sehen. Da hat er längst gemerkt, »daß wir systematisch von der Realität ferngehalten wurden. Alles war einigermaßen erträglich, solange ein Junge, der in der Kadettenanstalt ausgebildet worden war, den vorgezeichneten Weg nicht verließ … Wenn er sich aber eines Tages in einer Umgebung wiederfand, die nicht dem künstlichen Treibhaus glich, in dem er zu leben gewohnt war, führte das zu einem fatalen Fehlschlag.«

Für die Eltern ist diese Begeisterung für die neuromantische Jugendbewegung, von der der Sohn nicht lassen will, zu viel, und als er sich gar noch mit einem Mädchen verloben will, das weder Geld noch blaues Blut hat, droht man schon mal drastisch, ihn ins Irrenhaus zu sperren. Der Bruch ist da, und nun beginnt die wüste, in alle Richtungen führende Wegsuche des jungen Mannes. Er wird Packer im Hafen von Frankfurt am Main, arbeitet als KPD-Sympathisant und Buchhändler in der ersten kommunistischen Buchhandlung der Stadt, schließt sich einem Freikorps zur Rettung gefährdeter baltischer Barone an, studiert in Gießen, Heidelberg, Frankfurt am Main, wechselt zum Journalismus und zur Theaterkritik, macht sich mit dem modernen Tanz vertraut, schreibt für die »Vossische« und die »Frankfurter Zeitung«, ist Schüler des Bauhauses in Weimar und Segelflugpionier in Ostpreußen, Maler in der Rhön und Regisseur der Roten Bühne in Berlin.

Halkett ist der Ungebundene, den es ständig umhertreibt, immer weiter weg von den Wurzeln, der irgendwo ankommt und bald wieder aufbricht, unstet, rastlos und immer hellwach, besessen, so viel wie möglich kennenzulernen, und so wird sein Buch zum spannenden und bewegenden Bericht über die zwanziger Jahre, die Bohème der Weimarer Republik, über verrückte Abenteuer, Revolution und Gegenrevolution, Sehnsüchte, Intoleranz, Erlösungsfantasien und eine Naturschwärmerei, die schließlich den Heilsversprechen der Nazis erliegt und aufs »deutsche Wesen« schwört.

Halkett mit seiner Liebe zur Wandervogel-Bewegung hat das alles aus nächster Nähe gesehen, und kein anderer hat die allmähliche Verwandlung einer idealistischen Idee und ihre Inanspruchnahme für gar nicht so idealistische Ziele so intensiv beschrieben wie er. Der zunächst rätselhafte Titel des Erinnerungsbuches verweist auf ein Märchen. Der »liebe Unhold«, auf den er am Ende seines Buches zu sprechen kommt, ist ein Riese, der Wohltaten verspricht, in Wahrheit nur Böses im Schilde führt, der Kinder frisst und über andere Länder herfällt.

Halkett hat nach dem Reichstagsbrand Deutschland verlassen. Er versuchte sein Glück auf Ibiza, wechselte nach Mallorca und Barcelona und ließ sich, weil er nirgendwo sein Auskommen fand, im Brandenburgischen nieder, wo er kurze Zeit unauffällig für den »Deutschen Luftsportverband« arbeitete. Aber schon bald, 1934, ertrug er die »neue feindliche Macht« nicht mehr, er entschloss sich, ins englische Exil zu gehen, und schrieb, weil viele dort von ihren Illusionen über den »Herrn Hitler« nicht lassen wollten, seinen eindringlichen, lakonischen Bericht über eine aus den Fugen geratene Welt. Als das Buch vorlag, war ein Gefährte, der ebenfalls in England lebende Emigrant Sebastian Haffner, so beeindruckt, dass er an seinen eigenen Erinnerungen nicht weiterarbeitete. Seine »Geschichte eines Deutschen« erschien, aus dem Nachlass ediert, erst nach seinem Tod.

René Halkett: Der liebe Unhold. Autobiographisches Zeitportrait von 1900-1939. Übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Ursula C. Klimmer, Vorwort: Diethart Kerbs, Edition Memoria, 488 S., brosch., 36 €.

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