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Der Nordatlantik-Pakt in der russischen Sackgasse

Afghanistan-Abzug und Raketenabwehr prägten den Gipfel

  • Hans Voß
  • Lesedauer: 3 Min.
Geschützt von mindestens 5000 schwer bewaffneten Sicherheitskräften, von Helikopter und Booten der Küstenwache am Ufer des Michigansees hat der größte NATO-Gipfel aller Zeiten (so die Veranstalter) in den vergangenen beiden Tagen in Chicago zeitweise Staats- und Regierungschefs aus bis zu 60 Ländern zusammengeführt. Neben den Pakt-Mitgliedern waren das auch Vertreter von Staaten, die in irgendeiner Form an Militäreinsätzen und anderen Operationen der NATO beteiligt sind. Fast 20 000 Menschen protestierten gegen Aufrüstung und Krieg.
Massenprotest in Chicago
Foto:dpa/John Smierciak
Massenprotest in Chicago Foto:dpa/John Smierciak

Vor zwei Jahren, auf dem letzten Gipfel in Lissabon, hatten die NATO-Staaten ein neues strategisches Konzept verabschiedet. Es schrieb die langfristigen Perspektiven fest, begründete weltweite Interventionsambitionen, beschwor das Festhalten an der nuklearen Komponente und regelte die Modalitäten für den Beitritt anderer Staaten. Für Afghanistan wurde ins Auge gefasst, die kämpfenden Truppen dort bis Ende 2014 abzuziehen. Prinzipielle Entscheidungen über Richtungen und Probleme standen so in diesem Jahr nicht an. Es ging um Fortführung und Ausgestaltung. Großen Einfluss auf dieses Vorgehen hatten die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen in den USA. In einer Zeit, in der Barack Obama alles tut, um seine Wiederwahl zu sichern, verbieten sich stärkere Ausschläge in der internationalen Politik.

Weit oben auf der Tagesordnung stand erneut das Vorgehen der Pakt-Staaten in Afghanistan. Um das erklärte Ziel zu erreichen, die Kampfeinsätze der NATO-Verbände bis Ende 2014 zu beenden, wurde ein neuer strategischer Plan verabschiedet. Er enthält Festlegungen zur Übergabe der Verantwortlichkeiten an die afghanischen Sicherheitskräfte, darüber, was zu ihrer Ausbildung geschehen muss und welche finanziellen Leistungen die NATO-Staaten erbringen sollen. Dabei geht es um jährlich 4,1 Milliarden Dollar (3,2 Mrd. Euro) Unterhalt für Armee und Polizei. Zum Streit kam es vor allem, weil der neue französische Präsident François Hollande beharrlich auf seine Absicht bestand, die französischen Verbände nicht erst 2014, sondern bereits Ende 2012 zurückzuholen.

Einen weiteren Schwerpunkt auf dem diesjährigen NATO-Gipfel bildete das Problem der Einrichtung eines Raketenabwehrschirms der NATO gegen angebliche Bedrohungen aus Iran oder aus Nordkorea. Die russische Seite hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie diese Begründungen für vorgeschoben hält. Sie fühle sich bedroht und erwäge Gegenmaßnahmen. Das hat die NATO nicht veranlasst, ihre Pläne aufzugeben. Moskau wurde zwar angeboten, an den Gesprächen über die Ausarbeitung eines Projekts teilzunehmen. Auch fehlt es nicht an förmlichen Versicherungen, der Schirm richte sich nicht gegen Russland. Doch in vertraglich verbindlicher Form will man diese Zusicherung nicht gießen. Beschwichtigend wird erklärt, es handle sich um eine »Interimslösung« - was wohl heißen soll, eine verbindliche einvernehmliche Lösung müsse erst noch gefunden werden. Gegen diese Vorstellung spricht die Tatsache, dass den Gipfelteilnehmern in Chicago ein Abwehrsystem in Aktion präsentiert wurde. Zudem werden die in Europa - auch in Deutschland - stationierten taktischen Atomwaffen der USA nicht einseitig abgezogen.

Es ist wenig wahrscheinlich, dass der gordische Knoten noch vor den Wahlen in den USA durchschlagen werden kann. Nicht nur mit Blick auf Präsident Obama. Auch vom neuen (alten) russischen Staatschef Wladimir Putin ist nicht zu erwarten, dass er prinzipielle Positionen der russischen Politik quasi als Einstieg in die neue Amtsperiode aufgibt. Putin hatte seine Teilnahme am Gipfel in Chicago abgesagt und Regierungschef Dmitri Medwedjew entsandt, ob nun aus Verärgerung über die Unnachgiebigkeit der NATO oder um eine Konfrontation im Vorfeld der US-Wahlen zu vermeiden. So oder so, der Gipfel in Chicago hat gezeigt, dass ein stabiles Verhältnis der NATO zu Russland für die Pakt-Staaten von essenzieller Bedeutung ist, auch am Hindukusch.

Solange NATO-Staaten ihre Streitkräfte in Afghanistan stationiert haben - und das wird nach Lage der Dinge (wenn auch unter veränderten Vorzeichen) noch viele Jahre der Fall sein, besteht für sie die Notwendigkeit, ihren Nachschub über russisches Territorium zu leiten. Russland stellt seine Eisenbahnstrecken zur Verfügung und erntet dafür uneingeschränkt Lob. Wie glaubhaft solche Treueschwüre sind und welchen Belastungen sie standhalten werden, bleibt aber abzuwarten. Denn ein latentes Misstrauen des Westens gegenüber Moskau - verstärkt durch die Rückkehr Wladimir Putins auf den Präsidentenstuhl - ist unübersehbar.

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