Entsetzlich ermutigend

Badener »Lehrstück« von Hindemith und Brecht in der »Werkstatt« der Berliner Staatsoper aufgeführt

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 5 Min.

Unglaubliche Fahrt hat diese »Lehrstück«-Performance. Brecht hätte das bestimmt gefallen. Regisseur Achim Freyer saß mit im Saal. War begeistert. Was passiert?

Da tickt zunächst die Zeit der Küchenmädchen. Mit Schürze und Häubchen auf dem lockigen Haar schälen sie Kartoffeln. Da, der Küchenchef. In Weiß und hoher Haube. Er singt, schwätzt. Schenkt Wodka aus, reicht Plasteteller. Die Leute an den vielen Tischen sollen es gut haben. Auf der Empore der Schlagzeuger, die Beschallleute. Dirigent David R. Coleman gibt Zeichen. Die Ouvertüre hebt an, Kammerorchestermusik im Hindemith-Stil, aus der Konserve. Auf den Tischen liegen Mikros, als wären es Molotows. Jedermann kann sie gebrauchen, darf mitspielen in diesem Lehrstück nach Brechts »Badener Experiment«.

»Das Wasser ist kalt«, rufen einige unmutig. »Kommt endlich das Essen?!«, schreit es einzeln und chorisch. Wiederholungen jagen sich gegenseitig. Wo bin ich? Aja, eine Wärmestube, Essenausgabe für die Ärmsten. Schon bald hat der von ganz unten seinen Auftritt. Zerlumpt, zahnlos, verhärmt der Alte, der seinen spöttischen Vers auf die Zustände adressiert, seine Schieflagen, seine Ängste kundgibt. Dann ein Migrant. Seine ganze Wut schreit er heraus, knallend gegen Wände und Gesichter.

Die Puristen unter den Brecht-Adeptentümlern haben dessen Lehrstück-Komplex viel Unfug angedichtet. Die Stücke seien kalt, berechnend, konstruktivistisch, ja antihuman formuliert (»Die Maßnahme«) und dienten rein laboratorischen Lehrzwecken. Fast alles richtig, trotzdem Quatsch. Die Aufführungspraxis sagt anderes. Wer den schieren Text beglotzt, der hat nichts gesehen. Weder die Paradoxa, poetisch formuliert, noch die große Kümmernis, die hinter den unregelmäßigen Versen steckt und nach Darstellung sucht.

Brecht setzt in fast allen Texten Nachdenkpausen. Die kann man ewig lang machen, freilich nicht beliebig lang. In die kann man noch das ungeheuerlichste Material setzen, nicht jedwedes Material, und die Erörterung bis zum Äußersten treiben, freilich im dazu passenden Stil. »Sie hatten zehn Minuten Zeit, nachzudenken vor den Gewehrläufen«, schreibt Brecht den Jungen Genossen in der »Maßnahme« zu. In der Zeit können ganze Welten ablaufen, ganze Welten zusammenbrechen.

Gerade die möglichen Lücken sind strukturbildend für die Werkstatt-Inszenierung von Michael von zur Mühlen. Von Purismus keine Rede. Die Form ist offen, bisweilen zu offen. Was da alles hineingeschleudert wird an Invektiven, Spruch, Widerspruch, an Alltagsverbalien, an Schnickschnack. These, Antithese regiert. Die Irritation. Das Lächerliche, Anfechtbare. Die Unmöglichkeit zu denken, dem Chaos irgend Herr zu werden, und die Fassungslosigkeit darüber. Da geraten ganze Debatten über die soziale Lage in Europa, der Welt in den Clinch. Was jetzt in den Zeitungen steht. Theoriekaskaden eines Dutschke oder seinesgleichen verschaffen sich Gehör. Aktuelles Rebellentum flackert auf. Extreme segeln wie Flugblätter in die Vorgänge. Eine Frauenstimme ruft nach Massenerschießungen - um der Problemlösung willen. Fragt der in der anderen Ecke: »Wer schießt?«.

So energische wie flüchtige Reflexe auf das Chaos der Finanzkrise schieben sich zwischen Arien und Chöre. Ein Chaosabend und Höllenspektakel mit Darstellern, Sängern, Musikern, die reihenweise aus ihrer Rolle heraustreten, die frech sind, laut, äußerst beweglich, entsetzlich ermutigend. Wer sind die Akteure, Spieler? Auch Zuschauer sind es vereinzelt.

Streng genommen sind bei Brecht/Hindemiths »Lehrstück« Zuschauer nicht statthaft. Theoretisch. Es ist allein für Ausübende bestimmt. Ihr Zweck: die Macher - Chor, Solostimmen, Instrumentalisten - sollen lernen. Alle Psychologisierung ist fehl am Platze. Allenfalls darf der Zuschauer zufällig vor Ort sein. Ohnehin will der Stücktypus keinen Beifall erheischen, eher Erstaunen, Irritation, auch Missfallen auslösen.

Im »Lehrstück« gibt es keinen Helden. Das Lehrstück entwickelt Problemstellungen, stößt den Disput über prekäre Lebenslagen an. Wie meistere ich mein Unglück? Wie vergeblich ist mein Handeln? Warum finde ich keinen Ausweg? Wie verhalte ich mich - richtig, falsch, kühn, anpasserisch? Indem ich lüge, indem ich die Wahrheit sage, indem ich nichts sage?

Kardinale Frage im Stück: Warum hilft der Mensch dem Menschen nicht? Kann der Mensch dem Menschen überhaupt Helfer sein? Eine Frage, die aus der Textwelt Brechts nicht mehr herausgeht. Wenn Entscheidendes gefragt wird und niemand hat eine Antwort, niemand kennt die Lösung? Und ein Schweigen geht durch den Raum? Dann ist spätestens der Punkt erreicht, wo das Lehrstück Drama, wo die Musik ungeheuer bedeutsam wird.

Der Flieger, Idol der Massen, nachdem Charles Lindbergh Ende der 20er den Atlantik überquert hatte, ist der Gestürzte im »Badener Experiment«. Assoziierend die Unzahl der Gestürzten, entronnen den »Stahlgewittern« des Ersten Weltkrieges, weisend auf die Masse der Zurückgekehrten, der Bein- und Armlosen, der seelisch Deformierten; Krüppelgarde: nun nachdenkend über ihr Unglück, disputierend Auswege aus den Desastern der Gegenwart. Brecht gibt ihnen modellhaft Stimme, mobilisiert Denken, das eingreift in den krausen Haushalt der Köpfe.

1929 entstand das »Lehrstück« mit der Hindemith-Musik. Komponiert in neusachlicher Manier, im Geiste gemeinschaftsfreudigen Musizierens und Singens. Doch diese Musik ist überhaupt nicht freudig. Allenfalls einfach. Die meisten Chöre sind einstimmig gesetzt. Dem Gestürzten entfahren schlichte Melodien. Ein »rundes Werk« zu machen, war nicht intendiert. Stattdessen die offene Form. Ein soziales Experiment soll sich kundtun. Unvorhersehbares, etwas, dessen Ausgang unklar ist, korrigierbar. Von zur Mühlens Version transformiert den ganzen Komplex in die Gegenwart. Etliche Zitate sind eingebaut. Es fehlt nicht Majakowskis Gedicht »An Sergej Jessenin« - »Sterben ist hin ieden keine Kunst,/ Schwerer ist’s das Leben baun auf Erden.« Von Brecht/Hindemith bleibt immer noch genug. Vornehmlich Trauer.

Reiner Goldberg als der »Gestürzte«, in Kapitänsuniform, erschüttert mit seinen finalen Arien, begleitet von Mitgliedern der Staatskapelle und der Orchesterakademie, wahrlich die Seelen. »Sterben muss jeder, man muss es nicht lernen.« Und weisend auf die unendliche Verlassenheit der Entrechteten: »Wer also stirbt, wenn du stirbst? - Niemand.« Lange Fermate. Schließlich der Chor poetisch, in jedem Ton mitfühlend: »Jetzt weiß er: Niemand stirbt, wenn er stirbt. Jetzt hat er seine kleinste Größe erreicht.«

Nächste Vorstellungen: 23., 24.6.

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