Vom Jagen zum Schlachten

Christian Ingrao über SS-Täter und intellektuelle Wegbereiter des NS-Massenmordens

  • Manfred Weißbecker
  • Lesedauer: 4 Min.
SS-Brigadeführer Stroop (l.), Henker der Warschauer Juden
SS-Brigadeführer Stroop (l.), Henker der Warschauer Juden

Was machte, so wird seit langem diskutiert, »ganz normale Männer« zu jenen faschistischen Massenmördern, denen mehrere Millionen Menschen zum Opfer fielen? Wo liegen die Ursachen für dieses barbarische Verhalten sondergleichen? Wer zeichnet für den Genozid verantwortlich? Unter welchen Verhältnissen konnten Menschen zu Verbrechern werden, welche individuellen Voraussetzungen gab es dafür? Die Liste der Fragen ist lang, die der bisher unter die Leute gebrachten Antworten ebenfalls.

Nunmehr beschreibt ein belgischer, in Frankreich lebender Historiker erneut Vorgeschichte und Verlauf des mörderischen Geschehens und stellt seine Sicht darauf zur Debatte. Er untersucht die Lebenswege sowie die Denk- und Verhaltensweisen von 80 führenden SS-Funktionären, die als gut aussehende, intelligente und kultivierte Akademiker - Ökonomen, Juristen, Philosophen, Historiker, Sprachwissenschaftler und Geographen - Karriere machten, an der Erarbeitung der Vernichtungskonzepte mitgewirkt und sich schließlich auch direkt an den Ausrottungsaktionen in Osteuropa beteiligt haben. Die Fakten kann man bereits den Büchern von Christopher Browning, Christian Gerlach, Ulrich Herbert, Michael Wildt und anderen Autoren entnehmen. Von diesen grenzt sich Christian Ingrao jedoch ab. Wie, das formuliert er vor allem in der Einleitung und in seinen den Band beschließendenden Erläuterungen zum Forschungsstand.

Ingrao meint, die bisherige »Täterforschung« stecke in einer Sackgasse, da sie »allzusehr der Chronologie und der institutionellen Logik verhaftet« geblieben sei und »analytische Tiefe« vermissen lasse. Insbesondere der deutschen Historikerzunft wirft er vor, einen funktionalistischen Erklärungsansatz zu betreiben und zu übertreiben. Sein eigener Ansatz - mitunter etwas verschwommen formuliert - zielt darauf, den »Nationalsozialismus als ein Glaubenssystem« zu begreifen. Zwar habe auch die Politik Anteil an den Ursachen des Genozids, »aber ausschlaggebend waren Emotionen ... Inbrunst und Angst, Selbstmord und Gewalt, Utopien, Verzweiflung und Hass.« Notwendig sei eine anthropologische Perspektive, in der zu fragen sei, »welche Bedeutung dem Menschen (oder dem Tier), dem Körper, der Abstammung und dem Glauben zukam«.

In drei Teilen wird untersucht, welche Erfahrungen die späteren Täter in ihrer Jugend, d. h. während des Ersten Weltkrieges und in der Weimarer Republik, gemacht haben und wie diese sie zur NSDAP führten. Alles will der Autor als Ergebnis von Erfahrungen verstehen, gestützt vor allem auf Selbstdarstellungen der Täter in zeitgenössischen und nach dem Krieg verfassten Dokumenten. Der erste Teil von Ingraos Buch (»Eine deutsche Jugend«) ist erfahrungsgeschichtlich angelegt und behandelt, wie seine Protagonisten ihre Erlebnisse in Briefen und Lebensläufen darstellten, wie sich ihr Weltbild formte und wie sie zu »Nationalsozialisten« wurden. Im zweiten Teil wird dann deren politisches Handeln »als kulturelle Reaktion« auf frühe Erfahrungen dargestellt, während in Teil drei die Rhetorik der Notwehr, utopische Vorstellungen (Völkermord als unerlässliche Voraussetzung für die Germanisierung der besetzten Gebiete) und Ausrottungsfantasien sowie Realitätsverlust und Endzeitängste hinsichtlich ihrer Rolle in den Massakern der SS-Einsatzgruppen diskutiert werden. Schließlich behandelt Ingrao auch die nach dem Krieg und vor Gerichten unternommenen Versuche, sich durch Leugnen und Rechtfertigen zu retten.

Vieles liest man mit Interesse. Die ausgewählten Textstellen aus den Selbstdarstellungen der Täter stimmen nachdenklich. Fast könnte man von einer als Puzzle erscheinenden kollektiven Biografie sprechen. Allerdings wirkt manche Deutung aufgesetzt. Vor allem des Verfassers Frage, ob das Überschreiten der Schwelle zu den Massenmorden Mitte August 1941 nicht so etwas wie einen »größeren anthropologischen Umbruch« darstelle und mentale Abläufe vom »Jagen« zum »Schlachten« geführt hätten. Gerade das wird zwar in mancher Buchvorstellung und Besprechung als bereichernd gepriesen. Bringt es aber geschichtswissenschaftlichen Nutzen?

Nebenbei: Wieder einmal zeigt sich, was von beschönigender Werbung zu halten ist. Da wird ein Buch - es soll ja schließlich gekauft werden - wie eine übliche Ware angepriesen: Völlig neu sei es, hervorragend die Konzeption, zudem wegweisend. Wie sehr der Verlag dabei lediglich verkaufsfördernde Kriterien im Auge hat, erkennt man u. a. an der Titelwahl. Hitler sells - Hitler verkauft sich, lautet die Devise. Und so ist die deutsche Übersetzung mit »Hitlers Elite« überschrieben. Was kümmert es, dass der 2010 in Paris erschienene Titel dem Inhalt eher entsprechend lautete: »Croire et détruire. Les intellectuels dans la machine de guerre SS« (Glauben und zerstören. Die Intellektuellen in der Kriegsmaschinerie der SS«) Auch der Titel eines Vortrages, den Ingrao Ende 2010 in Berlin hielt, war exakter: »Akademiker im Sicherheitsdienst der SS. Eine Erfahrungsgeschichte des nationalsozialistischen Glaubens?«

Christian Ingrao: Hitlers Elite. Die Wegbereiter des nationalsozialistischen Massenmordes. Aus dem Franz. von Enrico Heinemann und Ursel Schäfer. Propyläen Verlag, Berlin 2012. 569 S., geb., 24,99 €.

Unser Rezensent diskutiert heute mit Kollegen und Linkspolitikern auf einer Tagung der Rosa-Luxemburg-Stiftung Thüringen über »Das Entscheidungsjahr 1932 in Thüringen und die Herausforderungen unserer Zeit« im Rathaus von Jena (17 bis 21 Uhr).

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