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»Blausäure in Diskussion - stop«

Wer war Eduard Schulte? Er informierte das Ausland über die Wahrheit der KZ. Er blieb ungehört

  • Ingrid Heinisch
  • Lesedauer: 6 Min.
Der Düsseldorfer Industrielle Eduard Schulte hatte guten Kontakt zu hohen Nazis. Er hasste sie. Er war ein Aufklärer, dem Erfolg und Ehre versagt blieben. Ein deutsches Lehrstück.

Der 28. Juli 1942 im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz. Ein Tag wie jeder hier. Transporte erreichen das Lager, in diesen Tage sind es Juden aus den Niederlanden, die Menschen werden selektiert, die meisten gehen in die Gaskammern und werden dort ermordet. Die Todesmaschinerie ist erst angelaufen, die Krematorien befinden sich noch im Aufbau.

An diesem Tag trifft sich der deutsche Industrielle Eduard Schulte mit einem polnischen Mittelsmann in der Schweiz und berichtet, was er über einen Besuch Heinrich Himmlers in Auschwitz erfahren hat. Die Folgerung, die er daraus zieht: dass die Vernichtung der europäischen Juden von den Nazis unmittelbar bevorstehe. Nur zehn Tage später erreicht die Alliierten ein Telegramm mit folgendem Inhalt:

»Erhielt alarmierenden Bericht: in Führerhauptquartier werde Plan diskutiert und erwogen in deutsch besetzten und kontrollierten Ländern alle Juden Anzahl dreieinhalb bis vier Millionen nach Deportation und Zusammenfassung im Osten mit einem Schlag auszurotten und damit die jüdische Frage ein für allemal zu lösen - stop - Aktion geplant für Herbst Methoden einschließlich Blausäure in Diskussion - stop.«

Wer war dieser Eduard Schulte? Ein mächtiger Mann: Generaldirektor der Giesche-Werke in Breslau, einem der wichtigsten deutschen Bergbauunternehmen, in dem 30 000 Menschen arbeiteten. Er stammte aus einer alteingesessenen bürgerlichen Familie in Düsseldorf - Vater und Großvater führten eine angesehene Kunstgalerie. Ein konservatives Milieu, in dem er aufwuchs, das aber instinktiv die aufkommenden Nationalsozialisten ablehnte.

Schulte selbst übersiedelte in den zwanziger Jahren nach Breslau und baute dort erfolgreich die Giesche-Werke auf. Und dies, obwohl er unter einer schweren Behinderung litt, denn er hatte mit achtzehn Jahren bei einem Unfall ein Bein verloren und lief mit Hilfe einer Prothese. Die Nationalsozialisten lehnt er inbrünstig ab. Er verachtete sie und traute ihnen jedes Verbrechen zu. Woher diese Haltung stammte, das weiß niemand. Das Elternhaus allein ist keine Erklärung. Schulte begann schon früh, für die Alliierten zu spionieren, indem er seine Kontakte zur NS-Elite und deutschen Wirtschaftsmagnaten nutzte. So gelang es ihm sogar, das Datum des Überfalls auf die Sowjetunion genau vorherzusagen.

Als er am 17. Juli 1942 erfuhr, dass Himmler einen Besuch in Kattowitz und im nahe gelegenen KZ Auschwitz plante, wollte er natürlich Genaueres wissen. Bis zu diesem Zeitpunkt war der Ort Oswiecim eine unbedeutende Kleinstadt und Auschwitz ein Konzentrationslager, in dem bisher hauptsächlich Polen aus dem Widerstand inhaftiert waren. Seit einem Jahr etwa kamen immer mehr Häftlinge aus ganz Europa hinzu. Das war Schulte natürlich bekannt. Himmler war nach Auschwitz gereist, um dort eine der ersten Vergasungen zu beobachten, es handelte sich um Juden aus dem holländischen Lager Westerbork, die in diesen Tagen mit einem Transport nach dem anderen nach Auschwitz gebracht wurden.

Schulte hatte gute Kontakte zu einem Gauleiter, der Himmler in Auschwitz begleitete. Was auch immer er erfahren hatte, es war so alarmierend, dass er sich neun Tage später in einen Zug in die Schweiz setzte, um jene Botschaft zu übermitteln, die schließlich in das Telegramm Gerhart Riegners, eines Vertreters des Jüdischen Weltkongress in Genf, einmündete: die Botschaft von der geplanten Vernichtung der Juden Europas.

Schulte ahnte damals nicht, dass die Vernichtungsaktion schon angelaufen und jetzt im vollen Gange war, aber er berichtete sogar vom Einsatz des Giftgases Blausäure, also Zyklon B.

Im August 1942 wurde das Warschauer Getto »liquidiert«, die Juden von dort kamen hauptsächlich in das Vernichtungslager Treblinka. Nach Auschwitz rollten zu dieser Zeit vor allem die Transporte aus Westerbork und Drancy in Frankreich. Auch die Vernichtungsmaschinerien in Chelmno, Belzec und Sobibor waren in vollem Gange. Dennoch: Hätten die Alliierten reagiert, hätten sie versucht, der Judenvernichtung Einhalt zu gebieten oder sie zumindest zu behindern - Hunderttausende von Menschen hätten gerettet werden können.

Was aber geschah mit den Nachrichten, die Eduard Schulte in die Schweiz brachte? Gelangten sie ans Ziel? Die Antwort lautet ja und nein. Die Hiobsbotschaft gelangte über Schultes Mittelsmänner an Gerhart Riegner, den damals jungen Angestellten des Jüdischen Weltkongresses - nach dem Krieg war er über Jahrzehnte dessen Präsident. Riegner war schnell davon überzeugt, dass Schulte recht hatte und leitete die Nachricht über die Vernichtung der Juden an die Alliierten weiter.

Über verschiedene Umwege erreichte sein Telegramm den damaligen Leiter des Jüdischen Weltkongresses Rabbi Stephen Wise. Und dann geschah erst einmal nichts. Keiner der zuständigen Beamten oder Angestellten in den USA wollte den Inhalt des Telegramms glauben, obwohl Nachrichten von Massentransporten die Alliierten längst erreicht hatten. Im November veranstaltete Wise eine Pressekonferenz, in der er die Massenvernichtung anprangerte. Damit waren Hitlers Pläne endgültig in der Welt. Doch Roosevelt reagierte immer noch nicht.

Von all dem konnte Schulte nichts ahnen. Er war inzwischen längst nach Breslau zurückgekehrt und versuchte weiter, an Informationen über Hitlers Pläne heranzukommen. Auch Gerhart Riegner suchte. Aus anderen Quellen schloss er, dass in den Vernichtungslagern täglich 6000 Juden ermordet würden. Aber auch seine späteren Berichte in die USA bleiben ohne Wirkung.

Im Dezember 1943 musste Schulte in die Schweiz fliehen, weil er als Spion aufgeflogen war. Dort lernte er den späteren US-Geheimdienstchef Allen Dulles kennen. Der ermunterte ihn, Pläne für ein Nachkriegsdeutschland zu entwickeln. In ihnen forderte Schulte vor allem die radikale Entfernung aller oberen und mittleren Nazifunktionäre von ihren Posten. Dulles hoffte, dass Schulte bei der Formung eines neuen demokratischen Deutschlands eine wichtige Rolle spielen würde.

Es kam anders. Schulte reiste nach Kriegsende mit einem Empfehlungsschreiben von Dulles nach Deutschland. Aber überall begegneten ihm die Vertreter der Alliierten mit größtem Misstrauen. Er wurde mehreren Entnazifizierungsverfahren unterworfen, strenger, als es mit den meisten Nazis geschah. Man unterstellte ihm ein doppeltes Spiel. »Es war schon ein Verlust für das Land, dass ein Mann seines Kalibers keine Gelegenheit erhielt, ihm mit seinem Können zu dienen«, so die Schlussfolgerung der US-Historiker Walter Laqueur und Richard Breitman in ihrem Buch: »Der Mann, der das Schweigen brach«.

Bald gab Schulte auf, er verließ Deutschland ein zweites Mal, dieses Mal für immer. Er verbrachte mit seiner zweiten Frau Doris seinen Lebensabend in Zürich, wo er im Januar 1966 starb.

Vier Jahre später beantragte seine Frau eine Entschädigung. Sie wurde im Gegensatz zu den Geldern für Witwen vieler prominenter Nazis abgelehnt. Die Richter: Schulte habe mit seiner Agententätigkeit Deutschland geschadet.

Lange Zeit rätselte die Wissenschaft, wer dieser geheimnisvolle Industrielle war. Erst Walter Laqueur und Richard Breitman lösten das Rätsel. Als ihr Buch 1986 in Deutschland erschien, erregte es einige Aufmerksamkeit. Ein Autor der Hamburger »Zeit« hoffte, dass sich nun auch deutsche Wissenschaftler diesem Mann zuwenden würden. In Düsseldorf, Schultes Heimatstadt, wurde auf Initiative der örtlichen VVN eine kleine Straße nach Eduard Schulte benannt.

Weiter geschah nichts.

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