Vertrautheit zwingt zum Schweigen

Eine Internetkampagne fragt nach Gründen, warum sexueller Missbrauch selten angezeigt wird

Die Initiatorinnen von »ich habe nicht angezeigt, weil« haben zwei Monate lang Geschichten gesammelt, die begründen, warum Opfer sexueller Gewalt nie zur Polizei gingen. Jetzt wurden die Ergebnisse in einer Studie zusammengefasst.

»Ich habe nicht angezeigt, weil ich Angst hatte. Ich habe immer noch Angst. Meine Mutter sagte, ich soll ihn nicht anzeigen, um die Familie nicht zu zerstören.« Meist sind es so wenige Sätze, die erklären, warum für die Opfer nur das Schweigen blieb. 1105 kurze, meist nüchterne Zeugnisse von Scham, Angst und Selbstzweifeln sind auf der Homepage, über Facebook und Twitter zusammengekommen, die die drei Initiatorinnen aus München jetzt zusammengetragen und ausgewertet haben. Die Aussagen stammen mehrheitlich von Frauen, aber auch ein paar Männer sind darunter.

Die Schwelle, über das Erlebte zu berichten, war niedrig, jeder konnte sich im Internet beteiligen. Nur die zu detaillierten Beiträge wurden zensiert, erzählt Sabina Lorenz, eine der Frauen, die die Internetseite ins Leben gerufen hat. »Ich war sehr schockiert, dass sexueller Missbrauch in Deutschland anscheinend Normalität ist«, sagt Lorenz. Von grauen Expertenstatistiken zu Opferzahlen und Aufklärungsraten hatte sie genug. Die drei Frauen wollten die andere Seite zeigen, schonungslos und ohne Bedingungen. Das Internet war dafür der perfekte Ort. »Hier ist Platz für Ihre Stimme. Wir glauben Ihnen«, steht gleich oben auf der Homepage.

Es ist nicht der Überfall eines Fremden im dunklen Parkhaus, es ist der sexuelle Missbrauch im Familien- oder Bekanntenkreis, der die Opfer stillhalten lässt, geht aus der Kampagne hervor. In 93 Prozent der beschriebenen Fälle sind (Ex)-Partner, deren beste Freunde, Vater, Opa, Bruder, Cousin oder die Mutter als Täter genannt. Auch Lehrer, Dozenten oder sogar Ärzte und Therapeuten listet die Auswertung auf.

Täter als Vertraute/r

Es ist also meist das Abhängigkeitsverhältnis, in dem Täter und Opfer zueinander stehen, es ist die Vertrautheit, die Schweigen schafft. »Ich war noch jung, zwölf vielleicht, es war mein Stiefbruder. Ich dachte, mir würde eh keiner glauben. Es hätte meinen geliebten Stiefvater nur verletzt, dass sein Sohn so was macht.«

Je näher sich Täter und Betroffene stehen, desto eher wird auch an der eigenen Wahrnehmung gezweifelt. War das überhaupt, eine »richtige« Vergewaltigung? Bin ich selbst schuld, war das Kleid doch zu kurz? Habe ich nicht selbstbewusst genug Nein gesagt? Gerade in Beziehungen oder im engeren Bekanntenkreis haben viele Angst vor Konflikten und den Konsequenzen einer Anzeige. Ein Viertel der Befragten, die Opfer von sexuellem Missbrauch in einer Partnerschaft wurden, gab in einer ähnlichen Studie des Familienministeriums an, sie hätten geschwiegen, um später in Ruhe gelassen zu werden. Jede siebte Frau über 16 Jahren war laut der Umfrage schon einmal Opfer »strafrechtlich relevanter sexualisierter Gewalt«. Nur in neun Prozent der Fälle wurde Anzeige erstattet. Wohl auch, weil über die Hälfte der Befragten den Vorfall als »nicht so ernsthaft« einschätzte. »Die mangelnde Bereitschaft unserer Gesellschaft, auf sexuellen Missbrauch angemessen zu reagieren, ist ein ernstes strukturelles Problem«, heißt es in der Studie von »ich habe nicht angezeigt«.

Aussage gegen Aussage

Neben Scham und Angst sind es vor allem auch die rechtlichen Prozedere, die viele vor dem Gang zur Polizei zurückschrecken lassen. Oft steht später Aussage gegen Aussage, die Beweislage ist dann meist schwierig. »Die Opfer müssen nach der Tat emotional stark belastende Entscheidung treffen«, erklärt Lorenz. Nicht duschen zu können, die ungewaschene Bettwäsche und Unterwäsche aufzuheben, ist für viele im ersten Schockzustand unmöglich.

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