nd-aktuell.de / 01.08.2012 / Politik / Seite 15

»Wir müssen an lokale Kämpfe anknüpfen«

3000 Anarchisten diskutieren in der Schweiz alternative Wege aus der Krise

Vom 8. bis 12. August 2012 wird in St. Imier in der Schweiz ein internationales Treffen von Libertären stattfinden. Aufhänger des Treffens, zu dem etwa 3000 Personen aus aller Welt erwartet werden, ist das 140-jährige Jubiläum der Gründung der Antiautoritären Internationalen 1872 in St. Imier. Mit Koordinatoren des Treffens in St. Imier sprach MARTIN LING.

nd: Mit dem US-Amerikaner David Graeber wird gerade ein Anarchist auch in den Feuilletons der herrschenden Medien für sein Buch »Schulden« gefeiert. Sind anarchistische Ideen in der Krise mainstreamtauglich?
Anarchistische Konzepte sind gerade tatsächlich »en vogue«: ob nun im Zuge der Vereinnahmung durch den Kapitalismus - etwa als flache Hierarchien und Teamarbeit - oder in Form basisdemokratischer Organisierungskonzepte bei der Bewegung der Empörten in Spanien, den so genannten Indignad@s, und Occupy. Letzteres ist für uns natürlich interessanter, zumal es zum Beispiel in Spanien eine größere Aktivität von Anarchist*innen in diesen neuen Bewegungen gibt. Das ist auch ein Grund dafür, dass Horizontalität dort ein fest verankertes Element ist. Dabei geben wir uns jedoch nicht der Illusion hin, dass anarchistische Ideen im Medien-Mainstream gerade mehr sind als ein unterhaltsames Exotikum.

Profitieren die Anarchisten von der Krise oder wie erklärt es sich, dass 28 Jahren nach dem Treffen in Venedig wieder ein Welttreffen stattfindet?
Erstmal ist »profitieren« sicherlich der falsche Begriff. Viele anarchistische Aktivist*innen sind schließlich ebenso von steigender Arbeitslosigkeit und sinkenden Sozial- und Gesundheitsleistungen betroffen wie andere Menschen auch. Aber anarchistische Ideen scheinen tatsächlich in Krisenzeiten eine höhere gesellschaftliche Relevanz zu haben als zu Zeiten von »Hochkonjunktur und Vollbeschäftigung«.

Da erscheint vielen Leuten ein Umdenken auch gar nicht angebracht. Derzeit stehen jedoch viele Menschen vor existenziellen Problemen und der Staat greift nicht korrigierend ein, im Gegenteil: Durch Kürzungen, Sparprogramme, Privatisierungen etc. wird ihre Lage noch prekärer. In solchen Situationen werden anarchistische Konzepte, gerade durch Grundpfeiler wie Selbstorganisation, gegenseitige Hilfe und Solidarität, attraktiv. Das Treffen in St. Imier ist auch ganz einfach eine Möglichkeit, sich endlich mal von Angesicht zu Angesicht zu sehen, denn auch den anarchistischen Bewegungen haben die neuen technischen Möglichkeiten eine viel bessere virtuelle Vernetzung ermöglicht. Die Krise wird natürlich auch auf dem Treffen eine wichtige Rolle spielen.

Sind die aktuellen Krisen rund um den Euro, die Umwälzungen in der arabischen Welt mehr als zyklische Krisenphänomene, wie sie dem Kapitalismus systemisch innewohnen?
Das ist offen. Klar ist, dass sich Kapital und Politik dieses Mal besonders schwer tun, politische und wirtschaftliche Lösungen zu finden. In Spanien oder Griechenland liefert ein nicht endender Zyklus aus Kürzungen und Repression keine greifbaren Ergebnisse, sondern hat im Gegenteil dafür gesorgt, dass elementare Aufgaben des Sozialstaates, wie etwa eine minimale Gesundheitsversorgung, in weiten Teilen Griechenlands faktisch nicht mehr existent sind.

Die Krise geht mit einem massiven Soziallabbau einher, insbesondere in Südeuropa aber weit darüber hinaus. Welche Wege offeriert das anarchistische Spektrum aus der Krise?
Der Kapitalismus ist die Krise. Das ist so trivial wie richtig. Es kann perspektivisch nur um eine Transformation des gesamten ökonomischen Bereichs gehen. Allerdings sind wir nicht so naiv zu glauben, dass es nur einer weltweiten Revolution bedarf und danach alle Probleme und Widersprüche von selbst verschwinden. Wir müssen hier und heute Raum für eine Gegenökonomie schaffen. Es geht darum, das Prinzip der Selbstverwaltung in allen Bereichen an der Basis umzusetzen und als ernstzunehmende Alternative zum Kapitalismus anzubieten. Die Vernetzung funktionierender ökonomischer Zusammenhänge der kollektiven Selbstversorgung könnte den Kapitalismus zurückdrängen und helfen, ihn zu überwinden. Das Aufzeigen konkreter Handlungsmöglichkeiten sorgt oft schon für einen Bewusstseinswandel. Es ist wichtig, an die Öffentlichkeit zu gehen, an lokale dezentrale Kämpfe anzuknüpfen, zu intervenieren. Wir müssen eigene politische und gesellschaftliche Strukturen aufbauen. Nur dann kann es Ansätze und Perspektiven anarchistischer Politik geben, die dem kapitalistischen System und seiner Krise entgegenwirken.

www.anarchisme2012.ch[1]

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