Kampf um urbane Freiräume

In Mainz leben Besetzer ihre Utopie

  • Hans-Gerd Öfinger, Mainz
  • Lesedauer: 4 Min.
In der Landeshauptstadt von Rheinland-Pfalz fehlt es an öffentlichen, unkommerziellen Räumen. Dem wollen die Besetzer eines leerstehenden Stadtwerke-Geländes Abhilfe schaffen. Doch die Stadt will offensichtlich räumen lassen.

Vor zwei Wochen war eine Gruppe überwiegend jüngerer Menschen überraschend in ein leerstehendes Anwesen an der Oberen Austraße eingezogen, das sich seit mehreren Jahren im Besitz der Mainzer Stadtwerke befindet und abgerissen werden soll. Die Besetzer protestieren damit gegen den Mangel an erschwinglichem Wohnraum und erheben die Forderung nach einem soziokulturellen Zentrum in der rheinland-pfälzischen Landeshauptstadt »frei von Hierarchien, Konsumzwang und Diskriminierung«.

Oberbürgermeister Michael Ebling (SPD) und die Stadtwerke hingegen setzen auf Räumung. Darauf deuten öffentliche Äußerungen Eblings ebenso hin wie ein von den Stadtwerken gegen die Besetzer verhängtes Nutzungsverbot sowie ein Strafantrag wegen Hausfriedensbruchs. Die rund 30 Besetzer hingegen wollen nicht aufgeben und die Nutzung vertraglich legalisieren.

Solarstrom und Wasserkanister

Auf dem besetzten Anwesen befinden sich neben einer ehemaligen Fabrikantenvilla und Werkstatträumen, die früher eine Autolackiererei beherbergten, auch Arbeiterunterkünfte. Bei der anhaltenden sommerlichen Witterung spielt sich der Alltag der Besetzer mit ihren Workshops und Gesprächsrunden jedoch überwiegend im Innenhof ab.

»Hier entsteht ein Gegenvorschlag«, heißt es auf einem weithin sichtbaren Banner, das an einem Balkon der ehemaligen Villa in einem Gewerbegebiet zwischen den Firmen Schott und Erdal, dem Zollamt und dem Rheinufer angebracht ist. »Gesellschaft braucht Freiräume - für ein soziokulturelles Zentrum«, so die Aufschrift auf einem Banner direkt über dem ständig bewachten Zugang zum Innenhof.

Die Besetzer haben es sich in den Räumen gut eingerichtet und Alltagsfragen wie die Verpflegung gut gelöst. Der erste Stock der Villa, wo Stuckverzierungen an der Decke noch etwas vom Glanz im frühen 20. Jahrhundert ahnen lassen, beherbergt Küche, Speisekammer und Esszimmer ebenso wie einen Infoladen, in dem das auf einem großen Wandplakat eingetragene Kreativprogramm aus Kultur, Kunst und Politik regelmäßig aktualisiert wird. Hier liegen auch Flugblätter und Infomaterial aus. Das Medienecho sei bisher überwiegend positiv, so eine Besetzerin gegenüber »nd«. Da das Anwesen ohne Strom und Wasser ist - die Wasserleitungen wurden offensichtlich schon vor Jahren entfernt - mussten die Besetzer rasch Abhilfe schaffen. Wasser wird in Kanistern herbeigeschafft, der Strom kommt aus einer mobilen Solaranlage und einem Generator. Die in der Küche verarbeiteten Lebensmittel stammen aus Geld- und Sachspenden, teilweise auch aus Mülltonnen von Supermärkten, die uneingeschränkt genießbare, aber vermeintlich unverkäufliche und original verpackte Ware kurz vor Ablauf der offiziellen Haltbarkeitsdauer in großen Mengen entsorgen.

Zum Kreativprogramm, das Besetzer und regelmäßige Besucher weiter zusammenschweißt, gehören unterschiedliche Workshops - von Akrobatik, Graffiti und Massage bis hin zu Lese- und Diskussionskreisen, die sich mit aktuellen gesellschaftlichen Problemen befassen. Der Darmstädter Elitenforscher Michael Hartmann war schon da und hat über »Eliten in Europa« referiert. Sichtbare Ergebnisse der Kreativität sind nicht nur mehrere Graffiti an verschiedenen Wänden. So hat eine abendliche Runde auch das bekannte italienische Partisanenlied »Bella Ciao« gezielt und gekonnt mit Bezug auf die Hausbesetzung umgetextet. »In der Gemeinschaft für alle offen lebt ein jeder nach seinen Wünschen frei vom Zwang des Eigentums«; heißt es darin etwa. »Wir kommen wieder und kämpfen weiter, denn Ideen sterben nie«, so der Abschluss der letzten Strophe in Anspielung auf eine mögliche Räumung, auf die sich die Besetzer gelassen vorbereiten.

Kooperation statt Konkurrenz

»Wir haben schon jetzt ein Zeichen gesetzt«, sagt ein Besetzer auf nd-Anfrage: »Wir kämpfen nicht nur für eine Utopie, sondern fühlen sie hier.« Der Alltag der Besetzung habe den Grundsatz »Kooperation statt Konkurrenz« verwirklicht und bereits »mehr erreicht als durch Demos«, so der junge Mann. Dass in Mainz unkommerzieller, öffentlicher Raum knapp sei und paradoxerweise Häuser seit Jahren leerstünden, könne nun öffentlich nicht mehr verdrängt werden.

Solidarität kommt auch in einem Appell von Mainzer Wissenschaftlern, Künstlern und Bürgern zum Ausdruck. Die Unterzeichner fordern Stadtverwaltung und Stadtwerke dazu auf, »alles zu tun, damit eine Nutzung von Leerständen wie der Oberen Austraße 7 möglich wird«.

Die Linksfraktion im Mainzer Rathaus lehnt eine Räumung strikt ab und hat inzwischen die Einberufung einer Sondersitzung beantragt, um ein Meinungsbild des Stadtrats »in Sachen Zwischennutzung oder Räumung des Anwesens Obere Austr. 7« herzustellen. »Dem zivilen Ungehorsam der Künstler und Aktivisten gebürt viel Lob und Anerkennung, haben sie doch heute schon mit ihrer Courage bewiesen, wie man politische Fehlentwicklungen unkompliziert korrigieren kann«, heißt es in einer Erklärung der Fraktion.

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