Für Deutschland oder gegen Menschen?

Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine bilanzierten die »Agenda 2010«

  • Reimar Paul
  • Lesedauer: 3 Min.
Schröder und Lafontaine bilanzieren in Göttingen »Agenda 2010« - und kommen zu völlig unterschiedlichen Bewertungen.

Der Sicherheitsaufwand ist immens und erscheint deutlich übertrieben. Die Polizisten am Eingang des Zentralen Hörsaalgebäudes der Göttinger Universität und vor dem größten Hörsaal haben nichts zu tun: Niemand ist gestern gekommen, um gegen den Auftritt von Altbundeskanzler Gerhard Schröder zu demonstrieren. Die Studenten sitzen in der Sonne auf dem Campus oder vor dem PC in einer der Arbeitsbibliotheken.

Im Audimax sitzen hauptsächlich Teilnehmer der Jahrestagung des »Vereins für Socialpolitik«, der den früheren Regierungschef eingeladen hatte, über die von ihm durchgesetzte »Agenda 2010« zu sprechen. Dass Schröders früherer Finanzminister, Oskar Lafontaine, später als Redner zum selben Thema bei einer kritischen Begleitkonferenz angekündigt war, hatte einen einigermaßen unterhaltsamen Nachmittag versprochen.

Gut gebräunt, mit schwarzem Anzug und roter Krawatte, federt der Ex-Kanzler auf das Podium. Er habe »viele gute Erinnerungen« an Göttingen, sagt er, »nicht nur welche, die mit meinem Studium hier zu tun hatten«. Die versammelten Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler lachen - so ein Schlingel, der Schröder. Er spricht weitgehend ohne Manuskript. Und sagt erwartbare Sätze: »Deutschland war wirtschaftlich verkrustet und erstarrt«. »Die Wirtschaft war nicht wirklich wettbewerbsfähig«.

Die »Agenda 2010« habe Abhilfe geschaffen. Die Reformen hätten den Arbeitsmarkt flexibler gemacht und so dafür gesorgt, dass auch bei schwächerem Wachstum Jobs entstanden seien. Die Langzeit- und Sockelarbeitslosigkeit in Deutschland sei gesenkt, der Mittelstand und die Infrastruktur gestärkt worden. Deutschland gehe es besser. Zudem habe Deutschland - Schröder sagt Deutschland, meint offensichtlich aber sich selbst - »bewiesen, dass es Reformen durchsetzen kann.«

Damit das so bleibe müssten die Reformen weiter gehen, verlangt Schröder. Rente mit 67, mehr Geld für Forschung, Bildung und »Innovation«. Ob das Zukunftsprogramm auch unter dem Namen Agenda laufe, sei ihm »nicht wichtig - Hauptsache, es passiert was«.

100 Meter weiter, in einem stickigen Seminarraum, setzt Lafontaine seinen »Kontrapunkt«. Er hat sich Schröders Vortrag angehört und darin einen »Trick« entdeckt. In der Lobpreisung auf die Agenda habe sein Ex-Parteifreund den Begriff »Deutschland« benutzt, das Wort »Menschen« vermieden.

Ihnen aber, den Menschen, gehe es seit Inkraftretten der Agendagesetze schlechter. Gesunkene Löhne stagnierende Renten, »demolierte« soziale Sicherungssysteme. 20 Prozent der Beschäftigten arbeiteten derzeit im Niedriglohnsektor, kritisiert Lafontaine. Die Ungleichheit nehme immer mehr zu.

Mehr noch, durch das »Lohndumping« und die Deregulierung der Finanzmärkte seien die Reformen auch in hohem Maße für die derzeitige Eurokrise mitverantwortlich. Reformen, die Schröder - Lafontaine sagt bloß »der damalige Bundeskanzler« - übrigens nur umgesetzt und nicht erfunden habe. »Das komplette Programm des BDI wurde da übernommen«. Der »Mainstream« habe damals, davon ist Lafontaine überzeugt, viele »Hirne vernebelt«. Nicht nur die von rot-grünen Spitzenpolitikern, die ihre »Fähigkeit zur Empathie völlig verloren« hätten, sondern auch in der Führung der Gewerkschaften. Wie sonst könne sich diese die Forderung einen Mindestlohn von nur 8.50 Euro auf die Fahnen schreiben?

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