Fehlalarm im Gehirn

Warum chronische Schmerzen häufig eine spezielle ärztliche Behandlung erfordern

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 4 Min.
Rund 20 Millionen Menschen in Deutschland leiden unter chronischen bzw. regelmäßig wiederkehrenden Schmerzen. Um diese künftig schneller und besser therapieren zu können, werden angehende Ärzte auch im Fach Schmerzmedizin ausgebildet.

Der Schmerz gehört seit jeher zu den Begleitern des Menschen. Er ist, wie der griechische Dichter Homer schrieb, »ein bellender Wachhund der Gesundheit«, der unserem Körper eine innere oder äußere Gefährdung signalisiert. Akute Schmerzen beruhen zumeist auf der Reizung freier Nervenendigungen, sogenannter Nozizeptoren, die man in der Haut und mit Ausnahme von Gehirn und Leber in allen Geweben findet. Sie reagieren auf Verletzungen und Verbrennungen ebenso wie auf Entzündungen und Giftstoffe. In den Nozizeptoren werden die Schmerzreize in elektrische Impulse umgewandelt und über verschiedene Nervenfasern zum Rückenmark und Gehirn weitergeleitet. Während das Rückenmark gegebenenfalls dafür sorgt, dass wir reflexartig die Schmerzquelle meiden, erzeugt das Gehirn eine individuelle Schmerzempfindung, die uns zugleich anzeigt, wo genau der Schmerz sitzt.

Während der akute Schmerz also eine wichtige biologische Schutzfunktion erfüllt, kann man Gleiches von chronischen Schmerzen nicht behaupten. Diese haben in der Regel ihre Signalwirkung verloren und treten daher oft als eigenständige Krankheit in Erscheinung. Die Ursache hierfür liegt im »Gedächtnis« der Nervenzellen. Werden diese immer wieder durch Schmerzimpulse erregt, verändern sie ihre Aktivität. Das wiederum hat zur Folge, dass auch leichte Reize - Wärme, eine Bewegung oder Dehnung - als Schmerzsignale ins Gehirn gelangen. Eine Faustregel besagt: Wenn Schmerzen länger als drei Monate anhalten, ist davon auszugehen, dass sich ein akuter in einen chronischen Schmerz verwandelt hat.

Wie kann man einer solchen Entwicklung vorbeugen? »Nur durch eine konsequente Schmerzbehandlung von Anfang an - also solange der Schmerz noch eine konkrete Ursache hat«, erklären Experten der Deutschen Schmerzliga (www.schmerzliga.de). Dadurch soll verhindert werden, dass sich die Schmerzreize gleichsam ins Gehirn einbrennen. Für eine solche Therapie stehen heute zahlreiche Medikamente zur Verfügung, deren Einnahme gewöhnlich unter ärztlicher Kontrolle erfolgt, um mögliche Nebenwirkungen frühzeitig zu erkennen.

Wie aus internationalen Vergleichsstudien hervorgeht, werden in Deutschland Schmerzen häufig unzureichend therapiert. Offenkundig haben viele Menschen hierzulande eine tief sitzende Angst vor einer Medikamentenabhängigkeit. Diese Angst ist jedoch zumeist unbegründet. Das gilt selbst für Opiate, die bei der Behandlung von starken Schmerzen zur Anwendung kommen. »Man geht davon aus«, so die Deutsche Schmerzliga, »dass Opiate in einer fachärztlich kontrollierten Therapie nicht süchtig machen. Hier werden sie nämlich meist in Form von Tabletten oder Pflastern eingesetzt, die den Wirkstoff langsam und kontinuierlich freisetzen - nicht in einem schnellen Schub wie bei einer Spritze.« Auch nicht-medikamentöse Therapien erwiesen sich als geeignet, chronische Schmerzen zu lindern. Beispiele sind hier autogenes Training, Massagen, Bewegungstherapie, progressive Muskelentspannung.

Chronische Schmerzen verursachen in Deutschland jährliche Kosten von rund 25 Milliarden Euro, die weniger für Therapien, sondern großenteils für Krankengeld oder Frühberentungen ausgegeben werden. Um so erstaunlicher ist, dass bis vor wenigen Jahren die Grundlagen der Schmerzbekämpfung im Medizinstudium nicht konzentriert, sondern zersplittert in vielen Teilfächern unterrichtet wurden. 2008 haben deutsche Schmerzspezialisten deshalb ein sogenanntes Kerncurriculum entwickelt, welches die wichtigsten Informationen zum Thema Schmerz in 14 Unterrichtsstunden zusammenfasst. Es kommt heute in rund zwei Dritteln der Medizinischen Fakultäten zum Einsatz. Darüber hinaus hat der Bundesrat in diesem Jahr einer lange geforderten Änderung der Approbationsordnung zugestimmt. Danach erhält die Schmerzmedizin künftig den Status eines Pflichtfachs in der Ärzteausbildung. Das heißt: Ab Oktober 2016 müssen Medizinstudenten, die sich zum zweiten Staatsexamen anmelden, einen Leistungsnachweis in diesem Fach vorlegen. Das sei ein »Meilenstein« für Schmerzpatienten, sagt Gerhard Müller-Schwefe, der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerztherapie (www.stk-ev.de), der allerdings noch weiteren Handlungsbedarf sieht: »Wir brauchen nicht nur eine bessere Ausbildung aller Ärzte in der Schmerzmedizin, sondern zusätzlich den Facharzt für Schmerzmedizin, der für die Behandlung der komplexen Probleme von Menschen mit chronischer Schmerzkrankheit qualifiziert ist.«

Aber selbst ein Fachmediziner wird chronische Schmerzen erfahrungsgemäß nicht immer vollständig beseitigen können. Was kein Grund zum Verzweifeln ist, wie schon Goethe wusste: »Unter Gesundheit verstehe ich nicht, Freisein von Beeinträchtigungen, sondern die Kraft, mit ihnen zu leben.«

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