Bruchstellen der Normalität

TV-Tipp: Amoklauf

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 3 Min.

Manchen Dingen, die unser Leben prägen, geht kaum jemand auf den Grund. Dem Kleinstnatürlichen der Quantenphysik etwa mit ihren Bosonen und Quarks. Oder allem Übernatürlichen von Gott bis Aura. Das gilt auch für Amokläufe - ein Verbrechen, scheinbar ohne Grund, unerklärlich, aber dennoch erklärungsbedürftig. Zu viele Ballerspiele, heißt es dann reflexartig, oder zu wenig Liebe, verletzte Obhut oder verdeckte Psychosen, falsche Filme, falsche Freunde, irgendwas. Hauptsache: ein Motiv.

Bei Katharina findet sich ein solches nirgends. Das Mädchen mit dem pechschwarzen Haar ist ein gewöhnlicher Teenager mit pubertär getrübter Seele, schlechter Haut und mieser Laune. Katharina könnte sich also in ihr Zimmer sperren und traurige Musik hören. Stattdessen nimmt sie das Jagdgewehr ihres Vaters und erschießt zwei Menschen. »Warum willst du dich umbringen«, fragt ihr Freund Luca zuvor in einem der raren Momente, in denen Katharina ihr Inneres sichtbar macht. Antwort: »Einfach so«.

Nur: einfach so geht nicht; nicht in der Realität, schon gar nicht im Fernsehen. Es sei denn, Aelrun Goette steckt dahinter, Deutschlands einzige TV-Regisseurin mit dem Mut, die Zuschauer ratlos zurückzulassen, weil auch das Leben eben oft ratlos macht. Ihr schmerzhaft brillantes Drama »Ein Jahr nach morgen« fragt zwar unablässig nach dem Warum, verweigert aber jede Antwort. Statt der Genealogie des Mordes sieht man die Zeit danach: Katharina (Gloria Endres de Oliveira), die keine Reue zeigt, ihre Mutter (Margarita Broich), die am Hass des Umfelds zerbricht, deren Mann (Rainer Bock), stets um Fassung bemüht, und das kollektive Aufarbeitungsversagen.

Das hat Methode. Der Film ist ein Zeugnis jener Leerstellen, die nach solchen Taten klaffen. Und des Drangs, sie mit Sinn zu füllen. Bei Goette ist das ein vergebliches Unterfangen. Wie schon in ihrer Dokumentation »Die Kinder sind tot« über eine Mutter, die ihre beiden kleinen Söhne verdursten ließ, zeigt sie die Sollbruchstellen der Normalität und die verzweifelte Suche der Allgemeinheit nach Antworten. Die stößt dabei auf ihre Unfähigkeit, Unvorhergesehenes ins Vorhersehbare des Alltags einzubauen. Die Unfähigkeit vor allem, zu verstehen, zu vergeben, zu akzeptieren, weiterzuleben. Dafür braucht Aelrun Goette keine Knalleffekte. Dass auf jemanden geschossen wurde, wird erstmals nach einer halben Stunde erwähnt; dass es dabei Tote gab, nach weiteren 30 Minuten; das Wort »Amoklauf« feiert kurz vor Schluss sein Debüt.

Trotzdem fesselt der Film mehr noch als die Tat selbst. Weil die 46-Jährige, auch fürs Drehbuch verantwortlich, über alle Tellerränder blickt. Weil die Ost-Berlinerin schon so lange in Prenzlauer Berg wohnt, dass sie dort alle Wandel mit vollzogen hat. Weil sie bereits Krankenschwester, Philosophiestudentin, Model, Soap-Star und Psychiaterin war. Weil sie wie sonst kaum jemand im TV-Metier Jugendliche begreift und ihre Empathie nicht Dienstleistung am Publikum ist, sondern echtes Interesse. »Ich schaue nicht auf eine Welt rauf«, sagte Goette mal, »ich schaue aus ihr heraus«. Dass wir ab und zu für eine Filmlänge mitschauen dürfen, ist ein Geschenk des Fernsehens.

ARD, 20.15 Uhr

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