1057 Kilometer bis Venedig

Dietmar Sous: »Sweet about me«

  • Werner Jung
  • Lesedauer: 3 Min.

Zehn Jahre ist es her, dass Dietmar Sous seinen kleinen Roman »Das Haus am Bahndamm« geschrieben hat. Und nun, nach einigen Erzählbänden, ein weiterer wunderbar schräger, lakonisch-komischer und herzzerreißend trauriger Roman.

Der Ich-Erzähler ist 55 und arbeitet seit Jahrzehnten sporadisch als Musikkritiker, der ab und an mal einen Popstar interviewen darf. Davon leben könnte er kaum, gäbe es nicht Betty, die seit 15 Jahren die kleine Familie, zu der noch die pubertierende Tochter Maya gehört, irgendwie zusammenhält. Doch dann passiert der fürchterliche Unfall: Maya wird in Holland während des Urlaubs angefahren und stirbt einige Zeit später an den Unfallfolgen im Krankenhaus. Darüber kommen die beiden nicht hinweg.

Sie bemühen sich um eine Adoptivtochter, ziehen in eine neue Wohnung. Das hilft ihnen nicht. Die zunächst freundlichen, dann nervenden Mitbewohner samt furchteinflößenden Hunden kommen störend hinzu. Schließlich driftet Betty in eine bigotte Religiosität ab und wendet sich den Zeugen Jehovas zu, während der Erzähler, am Rande des Nervenzusammenbruchs, mit einer seit Jugendtagen aufbewahrten Pistole die beiden Mitbewohner des Mietshauses erschießt. Schluss. Aus, Ende?! Nein, denn der Roman entlässt den Erzähler auf eine Reise nach Venedig, die der Mann mit der über achtzigjährigen Frau Hauenstein unternimmt, einer anderen Bewohnerin des Hauses, die ihn mit Geschichten rund um den Jazz-Trompeter Chet Baker zu faszinieren versteht.

Doch ist das nur das kurze und dürre Handlungsgerüst eines Romans, der - entgegen der in der Nacherzählung tragisch wirkenden Geschichte - herrlich leichtgängig changiert zwischen einer Geschichte aus dem Alltag und der Provinz. Das Rheinland, Aachen und die ostbelgischen Kantone sind präsent. Die Geschichte vom Scheitern einer Beziehung, einer Vielzahl skurriler Begebenheiten aus der Kindheit und Jugend des Erzählers mischt sich mit einem »hard boiled thriller«. Wer fragt da noch nach Realismus?

Der eigentümliche, unverwechselbare Sound von Dietmar Sous kompiliert souverän die verschiedensten Gattungen und Stilmerkmale; Pop- und Jazzmusik sind Trumpf, Einflüsse aus US-Filmen wie Pulp Fiction oder auch Splatter Movies mögen im Hintergrund dieser Geschichte gewirkt haben. Erinnert sei auch daran, dass eine von Sous' Erzählungen den bezeichnenden Titel »B-Picture« (1986) trägt. Auf die Hinrichtung der beiden nervenden Mitbewohner - »Peng. Heike glitt langsam an der geschmacklos, aber fachgerecht tapezierten Wand herunter. Anders als bei Sammy sprudelte Blut aus dem durchgeschlagenen Hals, spritzte auf meine Jeans, färbte sie dunkel« - folgt ein Abspann ganz im Stil eines Road Movie: die Flucht und Reise nach Venedig mit der alten Frau Hauenstein und ihren Geschichten über und mit Chet Baker. »Hat Chet Ihnen mal was auf der Trompete vorgespielt?«, fragte ich. »Ein Solokonzert nur für Sie?« - »Nein», antwortete Frau Hauenstein, »Chet wollte immer nur, dass ich auf seiner Trompete spiele, wenn du verstehst, was ich meine.«

Dietmar Sous: Sweet about me. Roman. Knaus. 192 S., geb., 16,99 €.

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