Proteste gegen Kutschma beschäftigen Polen

Ministerpräsident Miller lädt ukrainische Streithähne zum »runden Tisch« nach Warschau

  • Julian Bartosz, Wroclaw
  • Lesedauer: 4 Min.
Die innenpolitischen Spannungen in der Ukraine lassen Polen nicht unberührt. Ministerpräsident Leszek Miller hat während eines Besuchs im westukrainischen Lwiw eine Art »runden Tisch« in Warschau zwischen der ukrainischen Regierung und der Opposition vorgeschlagen.
Die Vorgabe ist ehrgeizig. Auf dem von Polens Ministerpräsidenten Leszek Miller für den 16.Oktober anvisierten Treffen in Warschau sollten neben der innenpolitischen Lage in der Ukraine die Erweiterung von EU und NATO und die Rolle der Ukraine dabei erörtert werden. Unter anderem würden daran Javier Solana als Chef der EU-Außenpolitik und der schwedische Ministerpräsident Göran Persson teilnehmen. Der ukrainische Regierungschef Anatoli Kinach sei an dem Vorschlag »interessiert«, hieß es. Der ehemalige ukrainische Außenminister Boris Tarasiuk und der ehemalige stellvertretende Ministerpräsident Wiktor Pynzenko, die als Vertreter der Opposition mit Miller zusammentrafen, nahmen einer Meldung der polnischen Nachrichtenagentur PAP zufolge die Einladung nach Warschau an. Miller war zum II. Regionalen Wirtschaftsforum nach Lwiw gereist, auf dem die Zusammenarbeit der beiden Nachbarstaaten erörtert wurde. Millers Reise war nicht unumstritten. Die Streitfrage hieß: soll sich Polen von der Auseinandersetzung zwischen dem ukrainischen Staatspräsidenten Leonid Kutschma und einer breit angelegten Opposition fern halten oder nicht? Das Problem entstand für Warschau, als sich ungefähr vor einem Monat in Kiew eine verschiedene politische Kräfte umfassende oppositionelle Koalition formierte und geschlossen in großen Straßendemonstrationen und anderen Aktionen den Rücktritt des seit 1999 bereits in zweiter Amtsperiode regierenden Staatsoberhauptes forderte. Der zu dieser wahrhaftigen »Regenbogen«-Koalition (Kommunisten wie Nationalisten, Sozialisten wie Liberale) gehörende Wiktor Juschtschenko, der von 1999 bis 2001 als Premier fungierte und auch als Chef des »Nasza Ukraina« (Unsere Ukraine)-Blocks die Parlamentswahlen im März 2002 gewann, bei der Regierungsbildung aber von dem mit verfassungsmäßig starken Befugnissen ausgestatteten Kutschma links liegen gelassen wurde, besuchte »inoffiziell« Polens Staatspräsident Aleksander Kwasniewski und bat diesen als »Schlichter« im innenpolitischen Kiewer Streit behilflich zu sein. Kwasniewski sagte selbstverständlich ab und zwar nicht nur deswegen, weil der ukrainische Amtskollege als sein »guter Freund« gilt, sondern aus prinzipiellen Gründen der Nichteinmischung. Das Problem blieb für Warschau dennoch bestehen. Für den 3.Oktober war nämlich die Teilnahme des polnischen Premiers Leszek Miller an einem längst anberaumten Wirtschaftsforum in Lwiw geplant. Dass die Entscheidung schließlich für die Reise fiel, lag an grundsätzlichen Erwägungen zur Bedeutung der Ukraine für Polen, zumal auch Vertreter der Opposition, wie beispielsweise der frühere Außenminister Professor Geremek den Standpunkt der Regierung bekräftigten: Präsidenten und Regierungen werden sich ändern, aber die Ukraine, unser strategischer Partner, wird bleiben und sich entwickeln! Polen, das vor elf Jahren als erster Staat die Unabhängigkeit der 50 Millionen Einwohner starken Ukraine anerkannt hat und sich hartnäckig darum bemüht, die Ukraine, wie es an der Weichsel heißt, westlichen Bündnissen - sowohl der NATO wie auch der EU - sozusagen zuzuführen, dürfe in der verzwickten Situation nicht kneifen und habe sich der Lage zu stellen. Vermutlich hat dazu auch der ukrainische Politologe, Prof. Bohdan Osadczuk (der jahrelang an der FU in Westberlin lehrte und dessen Sachkenntnisse seit 1990 sowohl in Kiew wie in Warschau geschätzt werden) geraten. Mit der Auflage, Polens Vorstellung für eine weitere gedeihliche Zusammenarbeit mit der ukrainischen Wirtschaft darzulegen aber auch damit, keinesfalls Kontakte mit der ukrainischen Opposition zu meiden, fuhr also Leszek Miller in die westukrainische Großstadt. In Warschau sieht man darüber hinaus »ideologische« Faktoren. Indem sich Polen intensiv für die Integrierung der Ukraine in den Westen einsetzt (gewissermaßen eine ähnliche Rolle zu spielen gedenkt wie Deutschland gegenüber Polen) wird in der polnischen »politischen Klasse« unwillkürlich die »Prometheus-Mythologie« von Pilsudski wachgerufen, deren Sinn darin bestand, Polen zur »Führungskraft« im Konzert osteuropäischer Völker zu machen. Als Alternative dazu - so denkt man in manchen polnischen Kreisen - gibt es nur die Abhängigkeit der Ukraine von Russland. Gerade diese Alternative, abgesehen von den Unterschieden im Demokratieverständnis, liege als tiefere ideologische Ursache dem Streit zwischen Kutschma und der Opposition zu Grunde. Leszek Miller musste bei dem Lwiwer Forum und ihm angeschlossenen Gesprächen mit Premier Anatolij Kinach wie Vertretern der ukrainischen Opposition (dem Sozialistenchef Morozow und Borys Tarasiuk von »Nasza Ukraina«) sehr geschickt agieren. Die Idee eines »ukrainischen runden Tisches« ist gut und schön. Das Gelingen dieses edel-ehrgeizigen steht allerdings unter einem großen Fragezeichen.
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